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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Zeichen zu Jesu, aus ihrem Suchen wurde ein fröhliches Finden. − Der HErr hatte ihnen durch den Engel, der ihnen gepredigt hatte, die Warzeichen des neugeborenen Kindes mitgetheilt. Diese waren so gering, daß man sich wundern muß, wie Gott und Seine heiligen Engel sie beachten mochten; aber sie waren auch so kenntlich und unverkennbar, daß sie trotz ihres Unwerths vortrefflich zu Warzeichen dienen und den Hirten ein leichtes Suchen bereiten konnten. So leitet der HErr die Seinigen an Seiner Hand, daß sie nicht irren; so gelangen sie zum Ziele, welches andere nicht einmal sehen, geschweige erlangen. Setzen wir den Fall, der Engel hätte den Hirten nicht gesagt, daß sie den HErrn im Stall, in der Krippe, in Windeln finden würden, welch ein mühsames Suchen würden sie gehabt haben, wie würde ihnen das Finden fast unmöglich geworden sein! Ihre unerfahrenen, der Wege Gottes unkundigen Herzen, welche doch nicht auf einmal durch die engelische Erscheinung zu himmlischer Weisheit gebracht worden waren, würden wol grade am verkehrten Orte nach dem Sohne Davids gesucht haben, Kinder von ganz anderer Art für den Heiland, von welchem die Engel predigten, zu erkennen bereit und geneigt gewesen sein. Es würde doch selbst die größte Weisheit, ohne göttliche Anleitung, nicht darauf gekommen sein, grade das ärmste Kind für Gottes Sohn zu erkennen! Wer wußte denn und wer konnte denn wißen, daß Gottes eingeborener, nun menschgewordener Sohn sich gerade in der tiefsten Erniedrigung den Menschen nahen wollte: dieser heimliche, verborgene Rath des HErrn war über aller Menschen Gedanken erhaben. Wol sicher darf man daher annehmen, die Hirten würden für Den, welcher ein Loblied aller Engel war, auch die Herrlichkeit und den Glanz der Erde, der ihm freilich gebührte, in Anspruch genommen haben. Aber nun waren sie aus allem Zweifel gerißen: keine Ungewisheit konnte ihnen übrig bleiben, die tiefste Niedrigkeit konnte sie nicht mehr befremden, nachdem sie einmal in Gottes Geheimnis eingeführt waren, nachdem einmal das Wort der Engel und die Klarheit des HErrn dem Kinde zu Statten gekommen waren und den dunkeln Stall zum Tempel Gottes verklärt hatten. Andern hätte es ein Räthsel bleiben können, wenn sie bemerkt hätten, wie grade die Zeichen der tiefsten Niedrigkeit den Hirten eine so große Ehrerbietung vor dem Kinde JEsus einflößen konnten: das Kind und Seine Anbeter sind immer den Kindern der Welt und Finsternis seltsame, wunderliche, unbegreifliche Erscheinungen gewesen. Das Kopfschütteln derer aber, die nicht wißen, was die Anbeter JEsu wißen, kann diese nicht irre machen in dem, was sie thun; die Freude ihres Findens und Anbetens hebt sie über das Bedenken der Welt hinweg. Die Hirten zumal wurden davon kaum berührt. Ihr stiller nächtlicher Gang war wol den übrigen Einwohnern von Bethlehem eben so verborgen, wie die Geburt JEsu selbst. Ihre Freude und Wonne wurde zunächst von keinem misgünstigen Auge wargenommen. Alle, die mit ihnen schauten, was da zu schauen war, waren mit ihnen gleicher Wonne voll, sie mögen nun vom Himmel gesehen oder an der Krippe des Neugeborenen geweint haben.

 So groß indes die Freude der Hirten war, und so viel sie vor allen Einwohnern der Stadt Bethlehem und der ganzen Welt voraus hatten, so dürfen wir doch ihr Glück nicht überschätzen. Sie hatten selig gefunden, sie kannten den HErrn, den Herzog ihrer Seligkeit, und kannten Ihn doch auch nicht. Sie hatten gefunden und wußten nicht wie viel. Sie sahen Seine Mutter und erkannten sie wohl auch als eine Tochter Davids, aber sie wußten nicht, daß sie noch Jungfrau, daß Joseph nicht Vater, daß der kleine Knabe Gott im Fleisch und Immanuel war. Sie sahen in Ihm ein Kind voll himmlischer Verheißungen, einen werdenden Erlöser, aber von Seinem göttlichen Wesen, Seiner anbetungswürdigen Herrlichkeit wußten sie nichts. Sie kennen nun den Erlöser, aber sie erkennen Ihn noch nicht: auch sie und ihre Kinder müßen erst durch Seinen Lebenslauf, durch Sein Leiden und Sterben, durch Seine Auferstehung und Himmelfahrt aus dem Morgenroth Seines Tages zum vollen Mittagslicht der Erkenntnis geführt werden.

 Wir wißen das alles von Kindesbeinen an. Aus den Ostertagen, aus der Himmelfahrt und dem seligen Pfingsten des HErrn fällt uns ein Licht auf die Krippe, welches die Hirten nicht kannten, obwol sie die Klarheit des HErrn umleuchtet hatte. Und ganz andere Warzeichen JEsu hat unserm forschenden Auge das Evangelium des zweiten Adventsonntags gegeben. Wir werden JEsum finden, wie die Hirten. Auch uns werden die Warzeichen nicht lügen und unser Finden wird um so seliger sein, als wir den HErrn in Seiner unvergänglichen Klarheit schauen werden. Bleiben wir am

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 036. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/47&oldid=- (Version vom 22.8.2016)