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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

die menschliche Vernunft für gut erkennen kann und menschliche Kräfte zu erreichen vermögen. Die menschliche Vernunft kann faßen, daß ohne Ordnung keine Wohlfahrt, ohne Zucht und Sitte keine Ordnung Statt finden könne. So wird sie also Gesetze, welche die öffentliche Ordnung aufrecht erhalten, Zucht in den Häusern, einen gewissen Grad von Ehrbarkeit in Sitten und Bräuchen für recht erkennen. Und die Liebe zum Hausstande, zu Eltern und Kindern, zur öffentlichen Ordnung, zu Heimath und Vaterland, zur Ehrbarkeit und dem Geziemenden in Sitte und Gewohnheit kann allerdings einen Zustand erzeugen, der gegenüber seinem Widerspiele, das sich so häufig findet, schön ist wie der Tag im Vergleiche zur Nacht. Man kann diesen Zustand Gerechtigkeit nennen und im Vergleich mit schlechteren Zuständen wird er den Namen auch tragen können; im Vergleiche mit beßeren aber wird man ihm den Namen absprechen müßen. Es läßt sich ein höherer Zustand denken, eine nicht bloß äußere Gerechtigkeit, eine innere Reinigung und Verklärung der Seele und ein Wandel vor Gott, den die Vernunft und menschliche Kräfte in Ewigkeit nicht erreichen. Eine tiefinnere Furcht vor dem Allgegenwärtigen, eine brünstige Liebe zu Dem, welchen das Auge nicht sieht, die Sinne nicht inne werden, ein festes, unzerbrechliches Vertrauen auf die Güte Deßen, der doch so heilig und schrecklich ist, die wahre Demuth und Bescheidenheit, Andacht und Anbetung bei allen irdischen Geschäften − und was sich alles ahnen oder am Bilde des vollkommenen Christus sehen läßt von der wahren Gerechtigkeit. Das sind aber lauter Dinge, von denen der natürliche Mensch nichts faßt, nichts versteht, nichts üben kann. Ja, man braucht nicht einmal die oben beschriebene menschliche Gerechtigkeit mit der göttlichen zu vergleichen, man suche sie selber, so wird man sie nicht finden; was von ihr da ist, ist doch nur ihr Gerücht, ihr Name, ihr Schatten und ein schwacher Anfang; denn auch sie läßt sich in ihrer Vollkommenheit nicht von außen aneignen, sie wächst in ihrer vollen Schönheit nur auf dem Baum der wahren, der göttlichen Gerechtigkeit, sie ist kein Menschenwerk, sondern selbst eine Geistesfrucht. Betrachte nur alle menschliche Gerechtigkeit, du wirst finden, daß sie kein Ganzes ist, kein Rock, der den Leib decken und zieren kann, sondern ein Stück- und Flickwerk. Wenn einer gleich nach Gerechtigkeit strebt, so verleugnet sich doch auch bei ihm die menschliche Natur nicht. Es geht ihr allzeit der göttliche Lebenshauch und Halt ab; angespannt geräth sie bald wieder in den Zustand der Abspannung, und wenn sie am schönsten meint aufzufliegen, entfallen die Flügel und sie stürzt in ihr nichts an Kraft und in ihr altes Meer von Sünden.

 Ihr wißt das alles, und ich hab euch nur aufgehalten, um euch desto begieriger nach dem rechten Weg der Gerechtigkeit zu machen. Ihr wollet gar nicht die menschliche Gerechtigkeit, sondern die göttliche, das rechte hochzeitliche Kleid, und das soll ich euch zeigen, nichts anderes. Erinnert euch also an den Brauch des Morgenlandes. Der Hochzeiter gibt seinen Gästen ein Feierkleid, das ziehen sie an und das Kleid, welches sie mitgebracht haben, ziehen sie aus. Das hochzeitliche Kleid ist kein mitgebrachtes, sondern ein empfangenes. Des Bräutigams Gäste sitzen in seinen Kleidern bei seinem Mahle. So ist auch die Gerechtigkeit, nach welcher des Königs Augen bei der Auswahl schauen, keine Frucht angeborener Werke und Anstrengungen der Gäste, sondern sie wird von ihm selbst gegeben. Er fordert von seinen ewigen Gästen nichts, was sie haben, sondern er gibt ihnen, was er haben und an ihnen ewig sehen will, und was er gegeben, das fordert er. Der Gast im Gleichnis, welcher im eigenen Gewande erfunden wurde, war ein unverschämter Beleidiger des Königs, der ihm ja nicht minder wie den andern beim Eingang sein hochzeitlich Kleid hatte reichen laßen. So ist auch der Mensch, der am Ende der Tage in seiner eigenen, armseligen Gerechtigkeit erfunden werden wird, ein unverschämter Beleidiger des ewigen Bräutigams und Königs; denn er hat eigensinnig die Lumpen behalten und mit Bettelstolz das königliche Gewand ausgeschlagen, welches die berufenden Knechte im Auftrag Christi denen reichen, welche dem Rufe folgen. Wer am Ende nicht hat, wodurch man selig wird, trägt allein die Schuld; denn es wird einem jeden Menschen gegeben und möglich gemacht, was für das ewige Hochzeitmahl nöthig ist.

 Mit all dem ist aber noch nicht gesagt, was das hochzeitliche Kleid sei, das Christus gern umsonst, aus Lieb und Güte allen denen schenkt, die zu Seinem Hochzeitmahle berufen werden. Das wollen wir jetzt noch hören und bedenken. Das hochzeitliche Kleid ist nichts

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 126. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/465&oldid=- (Version vom 24.7.2016)