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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

zu seinem Nächsten jemals sagen: „Jetzt wirst du berufen; überhörst du diese Berufung, so kommt dir keine Gnadenstunde mehr!“ Kein Mensch hat Erlaubnis dazu, und die zum Predigen Vollmacht haben, überschreiten diese ihre Vollmacht auf eine unverantwortliche Weise, wenn sie also sprechen. Der Versucher und Geist der Anfechtung ist geschäftig, und kaum kann er etwas leichter benützen, unerfahrene Seelen zu fahen, sie in Misglauben, Verzweiflung und andere große Schanden und Laster hinzureißen, als die unvorsichtigen Ausdrücke solcher Prediger, welche die augenblickliche Wirkung ihrer Vorträge damit zu verstärken suchen, daß sie Gottes Gnadenfrist auf die Stunde ihres Rufens und Berufens einschränken. Mit dem Leben entflieht die Gnadenzeit, sterben in Sünden ist, möcht ich sagen, die schrecklichste Drohung, welche je aus dem Munde des HErrn an die Juden ergangen ist. Jenseits ist keine Berufung mehr, mit dem Leben hört die Berufung auf, aber nicht eher. Wie lang du lebst, ist allerdings ungewis, und insofern ist auch ungewis, wie lange noch die Gnade währt. Aber so lang du lebst, darfst du kommen. Wohl und weise thut darum, wer jeder Berufung folgt, als wäre sie die letzte, und jede Stunde benützt, als käme keine mehr. Es liegt doch alles daran, daß wir die Berufung hören, in Gottes Vorsaal kommen, − aber freilich recht kommen, damit wir uns nicht betrügen, damit nicht die Auswahl Gottes am Ende der Tage auch für uns zu fürchten sei.

 3. Bis ans Ende der Zeit, bis an die Schwelle der Ewigkeit geht die Berufung fort. Bis an die Thore des Todes kann der Einzelne, bis an die Thore des jüngsten Tages kann die Menschheit überhaupt ihrer Berufung folgen. Dann ists ein Ende des Rufens, dann kommt der König Christus und schließt die Zeit sammt der Berufung und beschaut die versammelten Gäste, um auszuwählen, die in Sein Reich taugen, um auszusondern und hinauswerfen zu laßen in die äußerste Finsternis, die untauglich erfunden werden. Banger Tag, ernstes Geschäft, das auf der Grenze zwischen Zeit und Ewigkeit vollbracht wird! Was ist nöthiger zu wißen, als die Regel, wonach Auswahl und Aussonderung erfolgt? Das lehre uns der HErr und laße uns hierüber nicht nur nicht im Dunkel, sondern Er gebe uns auch, was uns Ihm angenehm macht, und nehme uns, was Ihm misfällt, auf daß wir Seine Wahl erlangen und mit Ihm ins ewige Leben gehen!

 Der Text sagt: „Der König gieng hinein, die Gäste zu besehen, und sah allda einen Menschen, der hatte kein hochzeitlich Kleid an; und sprach zu ihm: Freund, wie bist du herein kommen und hast kein hochzeitlich Kleid an? Er aber verstummete. Da sprach der König zu seinen Dienern: bindet ihm Hände und Füße und werfet ihn in die äußerste Finsternis hinaus, da wird sein Heulen und Zähnklappen; denn viel sind berufen, aber wenig sind auserwählt.“ Also kommt es im Gleichnis auf das hochzeitliche Kleid an, es haben oder nicht, das ist die Regel, nach welcher man angenommen, oder verworfen wird, − und man kann leicht verworfen werden; denn der Mensch ohne hochzeitlich Kleid, von welchem unser Text redet, ist nur der erste, der hinausgeworfen wurde; vielen nach ihm geschah gleich also, das zeigt uns ja schon das Wort: „Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt.“ Gäb es nur einen, der verworfen würde, so könnte man doch fürchten, der eine zu sein; gibt es hingegen viele, so muß man fürchten, und es ist deshalb um so nöthiger, sich um das hochzeitliche Kleid zu bekümmern, das vor der ewigen Pein behütet. Also was ist das hochzeitliche Kleid? Das ist die Frage.

 Kleid ist Bedeckung des Leibes. Von einer Bedeckung nur des Leibes kann natürlich hier nicht die Rede sein, weil von einem leiblichen Kleide die Aufnahme ins ewige Reich nicht abhangen kann. Das leibliche Kleid ist also nur ein Bild für ein geistiges Kleid. Seelenbedeckung ist es, auf die es ankommt, alles andere hilft nicht. Die Seele, so wie sie ist, ist arm, nackt, blind und bloß, mit vielem Schmutz der Sünde befleckt: wer wird sie bedecken, daß sie Gott gefalle, − wer gibt ihr die Gerechtigkeit, die hinreicht, alle Schuld vor Gott zuzudecken und auszutilgen? Wir merken, meine lieben Brüder, daß es, wenn wir nicht verworfen werden wollen, auf eine Gerechtigkeit ankommt, die unsere Gott misfällige Seele wohlgefällig machen kann, und wenn wir selig werden wollen, müßen wir uns in die Schule der Gerechtigkeit begeben, welche uns schon in manchem Evangelium des Kirchenjahres empfohlen und angepriesen worden ist.

 Es gibt eine gewisse menschliche und natürliche Gerechtigkeit. Sie beschränkt sich allein auf das, was

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 125. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/464&oldid=- (Version vom 24.7.2016)