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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

die sie am liebsten ausgetilgt und ihrem gegenwärtigen Thun eine ewige Währung gegeben hätten. So gar nichts wollen sie von der ihnen bereiteten ewigen Mahlzeit wißen, daß sie die frommen, wohlmeinenden Boten höhnen und tödten. Es ist eine bekannte Sache, daß dies den Juden nicht unbelohnt blieb, daß der HErr Seine Heere ausschickte, daß die Römer im Dienste des HErrn kamen, die Stadt der Mörder, Jerusalem, anzündeten, die Mörder umbrachten und am ganzen Lande die wohlverdienten Urtheilssprüche Gottes vollzogen. Nach diesen Gerichten Gottes über Jerusalem und Juda wurde der Segen unter den Heiden desto größer. Schon zuvor, da die Boten merkten, daß die Juden ihre Seligkeit nicht achteten, und Gott auf wunderbare Weise ihnen den Befehl zu Theil werden ließ, vor die Stadt hinaus d. i. hinaus von den Wohnstätten Israels auf die Straßen und Wegscheiden der Welt, zu den Heiden zu gehen, waren sie hingegangen, zu laden zur Hochzeit, wen sie fänden. Anfangs schien es, als brächten sie von den vier Enden der Erde nur Gute, bald aber zeigte sichs, daß es war, wie der HErr im Gleichnis sagt: „sie brachten zusammen, wen sie fanden, Gute und Böse.“ So gieng und geht es noch heute und es wird und kann nicht anders gehen bis ans Ende. Noch immer sammelt sichs im Vorsaal der Ewigkeit, in der heiligen Kirche auf Erden, alle Tische werden voll, aber es sind Gute und Böse.

 Es hat der Kirche Gottes schon oft zum Vorwurf gereichen müßen, daß Gute und Böse in ihr waren. Aber es ist doch nicht abzusehen, wie es anders kommen kann. Es ist uns kein Befehl gegeben, jemand aus der Kirche zu stoßen, so lang eine Hoffnung seiner Beßerung da ist. Der HErr hat nicht gesagt, daß der Haufe derer, welche hier auf Erden Seinen Namen tragen, aus eitel Heiligen bestehen werde. Dort, bei jenem Hochzeitmahle, ist kein Unreiner, dort sind lauter reine Seelen, dort ist eine lautere Versammlung von Heiligen. Hier aber ist es anders. Die Kirche auf Erden ist nur ein Vorsaal, ein Sammlungsort, ein Hospital, in welchem der beste nur ein Genesender, eine Rettungsanstalt, in welcher der beste nur ein werdender Heiliger ist. So wie die Kirche auf Erden sich für eine pur lautere Versammlung von Heiligen erkennen wollte, würde sie sich mit der triumphirenden Kirche verwechseln, ein verdammlicher Hochmuth würde sie ergriffen haben und es würde ihr unmöglich werden, ihren heiligen Rettungsberuf zu erfüllen. Ihre Demuth und damit die Grundlage aller Heiligung und Heiligkeit des Sünders; ihr Liebeseifer und damit ihre ganze Heiligung selbst, damit ihr Segen und alle Gnade Gottes würde ihr entschwinden, wenn sie es erzwingen wollte, etwas anderes zu sein, als Christus von ihr sagt, ein Sammelort, welcher auf Seine Ankunft, auf Sein Gericht, auf Seine Auswahl wartet. Erkennen wir das und laßen es uns gefallen im Vorsaale zu sein und noch nicht im ewigen Hochzeitsaale selber.

 Die Kirche Gottes auf Erden sei, was sie sein soll, und thue, was sie thun soll, bis ans Ende, sie berufe alle Völker und laße sich berufen. Die Berufung werde geübt und angenommen, und die Berufenen mögen in dem schönen Vorsaal des ewigen Lebens, in dem schönsten Ort der Welt, den es gibt, auskranken und genesen für den Tag des HErrn. Geschieht das, so geschieht ja das Rechte. − Was insonderheit die Berufung anlangt, so ist sie nicht bloß eine äußerliche, wörtliche, sondern im Worte wirkt der Geist; sie ist eine Berufung des heiligen Geistes, welche sich am Herzen der Berufenen beweist. Man kann ihr widerstehen, man kann nein sagen, nicht kommen, nicht recht kommen; aber verstanden wird sie, die Berufung, und so ganz leicht wird ihrer kein Herz los. Dazu kommt diese wirksame Berufung nicht bloß einmal sondern oft, die Juden hatten in ihrer Geschichte mehrere Perioden, in denen Gottes Ruf mächtig an sie erklang; im alten Testamente beriefen Propheten und Priester, im neuen Apostel, Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrer. Kein Prophet oder anderer Lehrer hielt bloß Eine Predigt, sondern viele, und eine jegliche war ein Ruf Gottes, eine Berufung. So ist es noch. Die Predigt stirbt nicht mit den Predigern, einer folgt dem andern. Die Prediger wechseln und sind sterblich, die Predigt ist Eine und unsterblich. So lange das Leben währt und die Erde steht, geht die Berufung immer fort. Nicht umsonst wird das hervorgehoben und bekräftigt. Es liegt für das Heil der Seelen viel daran, zu wißen, daß man oft berufen wird, daß das Heute, da man Gottes Stimme hört, nicht auf Einen Erdentag, sondern auf einen jeden gesagt ist, so lange das Leben währt, daß die Berufungszeit lebenslang dauert. Kein Mensch und kein Prediger kann und darf ohne besondere Offenbarung

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 124. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/463&oldid=- (Version vom 24.7.2016)