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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

22. Cap. an, so ist von der triumphirenden Kirche oder, was eins ist, von der seligen Ewigkeit der Gläubigen die Rede. Denn so lange die Zeit währt, ist die Hochzeit noch nicht gekommen; erst wenn die Zeit verweht ist, und die Ewigkeit über den schmelzenden Bergen und Elementen sich röthet, beginnt der hohe Frühling, die hohe Freudenzeit, die Hochzeit des Lammes. Den Namen Hochzeit führt die selige Ewigkeit der Kinder Gottes im vollesten Sinne des Wortes. Bei einer Hochzeit gibt es wohl sonst ein Brautpaar und Hochzeitgäste; nur das Brautpaar hat eigentlich Hochzeit, die Gäste nehmen Theil an fremder Freude. In der seligen Ewigkeit der Kinder Gottes ist es anders. Da gibts zwar ein Brautpaar, nemlich den Sohn Gottes und die Menschheit, die erlöste Menschheit; auch gibt es Leute genug, einen reichen Tisch voll fröhlicher Menschen; aber die Gäste alle sind Glieder Einer Braut, weil sie alle zur erlösten Menschheit gehören, und wer beim Hochzeitmahle ist, der wird auch auf ewig mit dem Bräutigam vereinigt. So sehen wir also in dem Bilde der himmlischen Hochzeit nicht bloß die Seligkeit einer bräutlichen Vereinigung Mannes und Weibes, sondern auch die heilige Einigkeit aller Gläubigen zu Einer Kirche, zu Einer Braut JEsu Christi gedeutet.

 Bei dieser doppelten Bedeutung, geliebte Brüder, bleibet einen Augenblick betrachtend stehen! Erkennet und bedenket das große Glück der Ewigkeit! Wer dahin gelangt, wird ein Glied sein der Versammlung aller Heiligen, die vereint sind, ohne Eckel und Ueberdruß der Gemeinschaft fürchten zu müßen, die sich kennen und einander nicht neiden, nicht reizen, nicht betrüben, bei denen ewig kein Zorn, keine Entfremdung, keine Misstimmung sein wird. Hier können auch nicht zwei Menschen längere Zeit mit einander umgehen, ohne zu finden, daß alle irdische Einigkeit allein durch irgend einen, sei’s auch noch so kleinen Grad von Entfernung und Entfremdung möglich wird. Dort wird es deßen nicht mehr bedürfen, sondern die Seligen werden einander mit immer junger, unaustilgbarer, heiliger Liebe umfaßen. Es wird ein solches Maß des Nahens und sich Hingebens statt haben, daß Glieder Eines Leibes näher und fester und inniger nicht verbunden sein können. Welch ein Bild der Liebe und des Friedens! − Und was macht sie so ganz und so völlig einig? Was anders als die gemeinsame Vereinigung mit Christo, dem HErrn? Er ist ihnen allen Ein heiliger, allen genugsamer, alle beseligender Bräutigam. Hier neidet einer den andern um Gab und Gunst des HErrn, dort nicht mehr; jeder gönnt dem andern seine Lust und Wonne in Christo JEsu, weil jeder selbst in Ihm vollkommen glücklich und zufrieden ist, und durch die ewige und unauflösliche Vereinigung mit Ihm wird Leib und Seel und alles um sie her durchleuchtet, alles sehen sie im schönsten Lichte vollkommener, ewiger Liebe. Er kleidet, speiset, tränkt sie; Er macht sie reich und herrlich; in Ihm haben sie alles, − was soll, was kann ihnen mangeln? Da fehlt für Leib und Seele ewig nichts; es freut sich Leib und Geist in dem lebendigen Gott und seinem Christus.

 O großer Gegensatz der Zeit und Ewigkeit! Noch haben wir zwar keine Vergleichung zwischen beiden begonnen, und doch fühlen wir schon, welch ein großer Unterschied zwischen Zeit und Ewigkeit sein muß! Wir fühlen es, gehen aber, den Eindruck zu verstärken, hinfort zur Betrachtung unsrer armen Zeit.

 2. Die Zeit ist dargestellt im Bilde der Berufung und Sammlung der Hochzeitleute im Vorsaal der ewigen Hochzeit. Die Gäste sind von zweierlei Art: erstens solche, welche lange zuvor geladen waren und zuletzt wieder gerufen werden; zweitens solche, die zuvor nie geladen waren und deswegen kaum als Gäste angesehen werden, die aber hernachmals doch geladen, gerufen und hereingeführt werden. Die mehrfach geladenen sind die Juden; die zuvor nicht geladen, welche aber am Ende doch gerufen und geladen werden, sind die Heiden. Die Knechte, welche zur ewigen Hochzeit riefen und rufen, sind die Propheten, die Apostel, die Evangelisten, die Hirten und Lehrer. Ihr immer dringender werdender Ruf ist das Evangelium von Christo, dem HErrn, die sanfte Stimme Gottes, die es allem Volk so leicht und lieblich macht, selig zu werden. Zuerst werden die Juden berufen, welche als Bewohner einer und derselben Stadt dargestellt werden, weil sie alle einen zusammengehörigen Haufen ausmachten und Eine Bürgerschaft Gottes waren. Die Boten Gottes werden aber grade von ihnen, den eigentlichen Hochzeitgästen, erst mit Gleichgiltigkeit und dann mit steigender Erbitterung aufgenommen. Ganz in ihr Ackerwerk, in ihre zeitliche Handthierung, in ihre irdischen Geschäfte versunken, ist ihnen nichts ärgerlicher als die Erinnerung an die Ewigkeit, für die sie nicht leben,

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 123. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/462&oldid=- (Version vom 24.7.2016)