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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

 Zur Betrachtung dieses seines Inhalts erbitten wir uns den Segen und die Kraft des heiligen Geistes. Amen.


 1. Die Sadducäer hatten dem HErrn in dem Beispiel des Weibes, welche von sieben Brüdern einen nach dem andern geehelicht hatte, nach ihrer Meinung recht klar und einleuchtend bewiesen, daß es keine Auferstehung geben könne. „Sonst wiße man ja nicht, wem das Weib in der Ewigkeit gegeben werden solle.“ Der HErr aber hatte ihnen das Maul gestopft und ihnen bewiesen, daß sie irrten und weder die Schrift, noch die Kraft Gottes verstanden. Nun versuchten die Pharisäer ihre Waffen an Ihm, um gleich den Sadducäern beschämt zu werden, und zwar eben so wohl durch die Antwort wie durch die drauf folgende Frage des HErrn. Sie fragten und Er antwortete vom Gesetz. Er aber fragte über das Evangelium, und sie konnten nicht antworten.

 Die Frage vom Gesetze lautete also: „Meister, welches ist das fürnehmste Gebot im Gesetz?“ Sie wollten von Ihm unter vielen ein einziges Gebot wißen, Er aber zeigte ihnen eines, welches alle andern in sich faßt, von welchem alle die andern nur Auslegungen sind. Denn Er sprach: „Du sollst lieben Gott, deinen HErrn, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüthe. Das ist das fürnehmste und größeste Gebot. Das andere ist dem gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben, als dich selbst. In diesen zweien Geboten hanget das ganze Gesetz und die Propheten.“ (V. 37–39.) Beide Gebote sind aber gewisser Maßen Eines. Sie handeln beide von der Liebe. Die Liebe aber ist nicht eine doppelte, sondern sie ist Eine. Die Liebe zu Gott − und die Liebe zu den Menschen ist eine und dieselbe Tugend. Gleichwie die Sonne ihre Strahlen über sich hinauf in Gottes Himmel und herunter zu uns armen Menschen streckt, so ist die Liebe Gott und Menschen zugewendet. Gott ist der Größte und Beste und über alles, drum achtet sie Ihn über alles, auch über sich selbst: der Nächste aber ist, wie sie, von Gott, − vor Gott gleiches Wesens und Werthes, drum achtet sie ihn auch wie sich selbst. Denn sie ist von Gott, darum urtheilt sie, wie Gott. − Wer wirklich Liebe hat, der hat Liebe zu Gott und dem Menschen. Wer einen von beiden nicht liebt, liebt gar keinen und hat gar keine Liebe. Das lehrt uns St. Johannes 1. Br. 4, 20. „So Jemand spricht: Ich liebe Gott und haßet seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, wie kann er Gott lieben, den er nicht sieht?“

 Die Liebe in ihrem Wesen zu erklären, ist eine unmögliche Sache. Sie ist göttlichen Wesens und darum unerklärlich. Wer sie hat und wer sie nicht hat, sie sind beide unfähig, Gottes und der Liebe Wesen auszureden. Es ist wahr, was die Alten sagen: „Was die Liebe sei, weiß Jedermann, nämlich eine herzliche Neigung, da kein Falsch hinter ist.“ Aber was ist damit erklärt, ist Neigung ein deutlicherer Ausdruck, als Liebe? Wir können wohl Wahres von der Liebe sagen, aber ihr Wesen ausreden, ist unmöglich, − dazu nicht nöthig, da ja wirklich Jedermann durch göttliche, wunderbare Einrichtung den Namen der unaussprechlichen Tugend versteht.

 Diese Liebe ist es, welche allen Werken den Werth gibt. Ein Leib ohne Seele ist verweslich und eitel; eben so ist ein Werk ohne Liebe eitel. Liebe muß die Seele aller Werke sein. Was Gott auch gebiete, mit Ausschluß der Liebe ist nichts zu verstehen. Alle Gebote gebieten Werke, welche ohne Liebe vor Gott nicht vollbracht werden können. Darum spricht auch der HErr: „In diesen zweien Geboten hanget das ganze Gesetz und die Propheten.“ (V. 40.) Mit Recht sagt Veit Dietrich: „Wo die Liebe ist, da ist das Herz; wo das Herz ist, da ist es alles, was du hast und vermagst. Es wird dir nichts sauer, alles thust du und leidest gern, was dir möglich, zu thun und zu leiden ist, wie man an der Welt Exempel sieht: Wer Geld und Gut lieb hat, der läßt sich keiner Mühe verdrießen; es wird ihm nichts sauer, wenn es nur der Mühe lohnt. − Also wo zwei Herzen mit Lieb gegen einander angezündet sind, da ists unnoth, um das oder jenes zu bitten, ein jedes ist willig, es denkt ihm selbst nach, was es nur dem andern könne zu Dienst und Gefallen thun, und ob sie schon zehn Meilen von einander sind, hangen doch die Herzen so genau aneinander, daß keines des andern kann vergeßen. − Also wollte nun Gott auch gern in unsern Herzen sein, daß wir ihn liebeten. Da dürfte es nicht so viel Heißens, daß wir Almosen geben, uns mit Eßen und Trinken nicht überladen, noch anderes thun sollten, was Gott verboten hat. Selbst würden wir

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 110. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/449&oldid=- (Version vom 24.7.2016)