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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Synagoge und in den Tempel zu gehen. Er freut sich des Worts, Er wohnt mitten unter den Lobgesängen Israels. Er ruht auch um des Wortes und Gottesdienstes willen und heißets die Seinigen thun. So gebietet auch Sein heiliger Apostel, daß wir nicht, wie etliche pflegen, unsre Versammlungen verlaßen sollen. Der HErr und Seine Apostel gebieten, das Wort Gottes zu predigen und zu hören. Auch gefällt es Ihm, wenn die Seinen sich selbst in den Häusern vermahnen mit Psalmen und geistlichen, lieblichen Liedern, wenn die Hausväter als Priester der Familien ihre Kinder und ihr Gesinde unterrichten in Gottes Wort. − Aber mehr als die stille Ruhe des Sabbaths, mehr als heilige Uebungen, Gottesdienst im allereigentlichsten Sinne ist Ihm nach unserm Texte − Uebung der Barmherzigkeit. Kranke heilen ist Ihm mehr, als feiern − Kranke pflegen, den Hungrigen das Brot brechen, Nackende kleiden, unabwendbare Arbeiten der Liebe vollenden ist Ihm Sabbathsarbeit. Die Liebe hat sogar Erlaubnis, an dem Ort der Predigt und Lehre, während Predigt und Lehre schallt, ja während die Sacramente verwaltet werden, vorüberzugehen. − Sieh da Ausnahmen der rechten Lehre, die nicht im eigenen Nutzen, sondern in dem des Nächsten ihren Grund haben. Nichts ist segensreicher, nichts ehrwürdiger, als das Geschäft, das wir hier besorgen, durch Wort und Lehre Seelen zum Himmel zu bereiten. Hier sollen wir, wenn nicht Krankheit und andere eigene unabtreibbare Beschwerden uns hindern, nie und niemals fehlen. Aber um deines Nächsten willen, wenn du als Arzt zu seinem Bette, oder als Pfleger, als Tröster etc. gerufen bist, − oder wenn du in Todesnöthen beistehen − oder wenn du andere Gefahren gerade zur Zeit des Gottesdienstes abwenden kannst und früher nicht, später nicht, oder doch nicht so gut etc. − um solcher Liebesgründe willen bist du ohne Sünde, wenn du in der Versammlung des HErrn fehlst. Sieh, so ist die Liebe Königin im Reiche der Wahrheit, − aber der Eigennutz im Reiche des Wahns. Dort macht Barmherzigkeit, hier nur der Genuß des Zeitlichen Ausnahmen − und du kannst daraus wieder deutlicher erkennen, welche Lehre am werthesten ist, ergriffen und umfaßt zu werden.

 4. Doch gibt dir die Geschichte vom Gastmahle des Pharisäers noch einen Blick mehr in die Beschaffenheit pharisäischer Herzen und des Herzens JEsu.

 Das Wunder war vorüber. Man beliebte, sich nicht darüber zu wundern, man trat näher zum Tische, zum Mahle. Da begannen nun die andern Gäste zu wählen, wer unter ihnen oben an und wo ein jeder nach Stand und Würden sitzen solle. Eine große Eitelkeit, und doch so wichtig! Man denke sich nur hinein in dieses Mienenspiel! Welch ein Schauspiel für den Menschenkenner! Welch ein traurig Schauspiel für den Menschenfreund! Welch ein Jammer für das Herz JEsu! Das sind nun diese heiligen Pharisäer, die es mit dem Arbeitsgebot des Sabbaths so genau nehmen, daß sie lieber gar nichts thun, als je einmal in die Gefahr kommen, es zu verletzen! Und diese genauen, ernsten Heiligen sind so voll Hochmuths, daß sie den Hochmuth auch da nicht bergen können, wo es doch so leicht sein sollte, demüthig zu sein. Ein wenig kühle Betrachtung reicht hin, es mit dem Platze nicht genau zu nehmen, über den Rang sich trösten zu können, − von Bescheidenheit, von Demuth nicht zu reden. Aber da siehe, wie mächtig in gesetzlichen Leuten die Sünde ist, − die grobe, große Hochmuthssünde! Schläge und Wunden verschmerzen sie leichter, als Zurücksetzung! − Hier ist die ganze Sache aufgedeckt. Willst du wißen, woher die leichte unbarmherzige Gesetzauslegung der Pharisäer, woher der fanatische Eifer für gesetzliche Kleinigkeitskrämerei, woher bei alledem offenbarer Eigennutz, − woher dieser Selbstbetrug der Sünde? Im Hochmuth ist es alles begründet, daher kommt alles. Sie erkennen nicht ihre falsche Lehre, nicht die Falschheit ihres Eifers, nicht die Sünde des Eigennutzes, die immer und immer wieder zum Vorschein kommt, − warum nicht? Weil sie vorn herein von ihrer eigenen Vortrefflichkeit eine unaustilgbare Ueberzeugung haben und als gute Pharisäer darauf schwören, daß sie nicht sind, wie andere Leute!

 Dagegen sieh JEsum an. Wem gebührt Majestät, Sieg und Dank, wem Thron und Ehre, wem der erste Platz − zumal in einer Versammlung durchtriebener und doch blinder Pharisäer, wenn nicht Ihm?! Und hörst du Ihn etwa um den Rang streiten, oder steht geschrieben, daß Er auch von der elenden Wählerei ergriffen worden sei? Nichts davon! Im Gegentheil. Er wußte, daß es unter dieser blinden Rotte Schicklichkeit gewesen wäre, nichts von dem Getriebe des Hochmuths zu bemerken, fein höflich und freundlich in das niederträchtige Buhlen um eitle Ehre zu sehen.

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 108. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/447&oldid=- (Version vom 24.7.2016)