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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

zu JEsu: wer ist denn mein Nächster? 30. Da antwortete JEsus und sprach: Es war ein Mensch, der gieng von Jerusalem hinab gen Jericho und fiel unter die Mörder; die zogen ihn aus und schlugen ihn und giengen davon und ließen ihn halb todt liegen. 31. Es begab sich aber ohngefähr, daß ein Priester dieselbige Straße hinab zog; und da er ihn sahe, gieng er vorüber. 32. Desselbigen gleichen auch ein Levit, da er kam bei die Stätte und sahe ihn, gieng er vorüber. 33. Ein Samariter aber reisete und kam dahin; und da er ihn sahe, jammerte ihn sein, 34. Gieng zu ihm, verband ihm seine Wunden und goß drein Oel und Wein; und hob ihn auf sein Thier und führete ihn in die Herberge und pflegte sein. 35. Des andern Tages reisete Er und zog heraus zween Groschen und gab sie dem Wirth und sprach zu ihm: Pflege sein; und so du was mehr wirst darthun, will ich dirs bezahlen, wenn ich wiederkomme. 36. Welcher dünkt dich, der unter diesen dreien der Nächste sei gewesen dem, der unter die Mörder gefallen war? 37. Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm that. Da sprach JEsus zu ihm: So gehe hin und thue desgleichen.


 DAs heutige Evangelium stellt uns einen zweifachen Weg zur Seligkeit vor, den Weg der Werke und den Weg des Glaubens. Der letztere ist mit wenigen Worten geschildert, der erstere hingegen genauer vorgelegt. Wie unser Text, so die Predigt. Wir wollen den Weg der Werke weitläufiger besprechen und kürzer von dem Wege des Glaubens reden.

 Der HErr wendet sich am Eingang des Evangeliums an Seine Jünger und preist die Seligkeit, welche ihnen durch das gläubige Schauen Seiner allerheiligsten Person und Werk, sowie durch das gläubige Hören Seiner Worte zu Theil werden könne. Könige und Propheten wollten schauen und hören, was die Apostel hörten, ihre sehnsüchtigen, glaubensbegierigen Herzen wären davon satt geworden; aber ihnen wurde die Sättigung nicht zu Theil, welche die Apostel ohne ihr Verdienst durch göttliche Gnade fanden. − So sprach der HErr zu Seinen Jüngern und belehrte sie damit von dem Wege zum ewigen Leben, von welchem wir am Schluße weiter reden wollen. Da trat ein Schriftgelehrter auf, versuchte Ihn und sprach: „Meister, was muß ich thun, daß ich das ewige Leben ererbe?“ Er hatte entweder von der Seligkeit derer, welche JEsum schauen und hören, nichts vernommen, oder er faßte es nicht so scharf und streng mit Ausschluß der Werke auf; er saß in dem Gedanken fest, daß man durch Werke selig werden müße, und konnte sich gar nicht denken, daß der wunderbare JEsus einen ganz andern Weg, als den der Werke sollte vorschlagen können. Höchstens eine neue Art der Werke, aber doch Werke vermuthete er von dem HErrn gepriesen zu hören. Er mußte deswegen nicht wenig überrascht sein, als er aus der Antwort und dem Gespräche des HErrn durchaus keinen neuen Weg der Werke vernahm, durchaus keine Neuigkeit, sondern den innigsten Anschluß an die bestehende Lehre. „Wie steht im Gesetz geschrieben? sprach der HErr, wie liesest du?“ Was wollte der HErr mit diesen Worten anders sagen, als: „Ich bin nicht gekommen, das Gesetz aufzulösen; wenn es aufs Thun ankommt, so bin ich ganz mit dem alten Testamente einverstanden.“ Der Schriftgelehrte beantwortete die Frage ganz bedächtig mit einer trefflichen Zusammenfaßung des Inhalts der beiden Gesetzestafeln (5. Mos. 6, 5. 20, 12. 3. Mos. 19, 18). „Du sollst Gott, deinen HErrn, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüth, und deinen Nächsten als dich selbst“ sprach er, − und der HErr bekräftigte mit neutestamentlichem Ansehen des Schriftgelehrten alttestamentliche Weisheit. „Du hast recht geredet, spricht ER, − thue das, so wirst du leben.“

 In dieser Antwort beobachtete der HErr dieselbe Art und Weise, welche ER auch sonst in ähnlichen Fällen beobachtete. So oft ein Mensch kam, der redlich oder doch mit einem gewissen Grade von Redlichkeit seine Meinung merken ließ, als könne man auf gesetzlichem Wege selig werden, − wurde er von dem HErrn nicht weggestoßen, im Gegentheil, der HErr gieng mit ihm auf seine Meinung ein und offenbarte ihm die Wunder und Herrlichkeit des Gesetzes also, daß dem armen Menschen wohl die Erkenntnis kommen mußte, der Weg des Gesetzes sei zur Seligkeit für ihn ein unmöglicher. So that Er bei dem reichen Jüngling, so bei dem Schriftgelehrten unsers Textes. Seine Methode ist die Methode der Vollkommenheit. Alle, welche durchs Gesetz zum Leben geleitet werden wollen, können durchaus keine andere Meinung, als die haben, daß sie durch Erfüllung

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 082. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/421&oldid=- (Version vom 24.7.2016)