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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

welche aber damals vielleicht nur Joseph und Elisabeth in ihrer hohen Würde kannten, von Nazareth nach Bethlehem zu bringen, den letzten Wurzelsprößling Jesses ins alte Heimatland des Stammvaters zu versetzen! Vielleicht war es, wie wir schon erinnerten, nicht einmal Mariens Pflicht, den Mann Joseph zu begleiten, dem sie vertraut war, für deßen Weib sie gehalten wurde. Vielleicht war der Beweggrund, ihn zu begleiten, da er gehen mußte, kein anderer, als der, mit dem heiligen Geheimnis, das sie hatte, an dem sicher erkannten Orte, in der erwarteten Stunde der wundervollsten Geburt nicht alleine, nicht ohne den Pfleger und Vater sein zu wollen, welchen ihr Gott beigegeben hatte. Vielleicht war also ihr Gang nach Bethlehem, wie man heut zu Tage gerne sagt, vor den Menschen ein rein zufälliger, welcher nur von Mariens Neigung und innerem Triebe abhieng und der Schatzung wegen hätte unterbleiben können. War das so, so mußte sich die ganze Welt in Bewegung setzen, ich sage nicht um ein Mägdlein von Nazareth nach Bethlehem zu zwingen, sondern nur, um ihr diesen Gang nach Bethlehem nahe zu legen, sie zu demselben nach der Vorsehung Gottes zu veranlaßen, ja gar, nur den äußeren schicklichen Anlaß zu einer Reise zu geben, von deren Zweck und Absicht die Menschen nichts verstanden, die sich vor ihren Augen immer noch am einfachsten aus der Vermählung Marien mit Joseph erklärte. So scheint sie denn ihren Mann Joseph zu begleiten, im Grunde aber begleitet er sie. Ja, die ganze Schatzungsbewegung ist nur eine Art von gleichartiger Bewegung: ganz Israel thut, was diese Tochter Davids, die Mutter des ewigen Königs thut: sie soll in ihre Heimat gehen − da geht ganz Israel in die Heimat, damit sie hingehe, und alle Geschlechter Israel begrüßen gleichsam von ihren Orten den hochgelobten König an Seinem Ort. − Meine theuern Brüder! Es ist zu verwundern, daß von Esau und Jakob geschrieben steht: „Der Größere soll dem Kleineren dienen“; aber in unserm Evangelium geschieht mehr. Augustus ist größer als Esau, und Maria sammt dem Kinde unter ihrem Herzen scheint wenigstens kleiner, als Jakob. Dennoch muß Augustus und sein Weltkreiß sich um Maria und den Sohn ihres Leibes drehen, und die Bewegung der Völker, an sich fürs ewige Leben ohne Werth, gewinnt Sinn und Bedeutung durch den verborgenen, unerkannten Dienst, welcher Marien, ihrem Sohne und dem Reiche Gottes dadurch geleistet wird.

 Maria ist in Bethlehem, in einem armen Stalle − und hier gebiert sie „ihren ersten Sohn“. Sieh hier das Weib und den Weibessaamen, von welchem geschrieben steht! Sieh hier den Fürsten des Lebens in der Gestalt eines Säuglings − und eine wahre Mutter alles Lebens! Sieh hier JEsum, Immanuel, in welchem sich Gottheit und Menschheit, Himmel und Erde, Völker und Völker wieder finden! Sieh die Versöhnung Gottes und der Menschen, von welcher wir Jahr aus Jahr ein predigen und nicht müde werden, noch zu Ende reden können, von welcher gepredigt haben alle entschlafenen Propheten und Prediger, von der die Sänger singen, die Sänger hier, die Sänger dort! Ja, das ist ein Fest, das ist ein Tag, welchen der HErr gemacht hat; der Geburtstag JEsu, das ist ein Mittelpunkt aller Tage und Zeiten! Und Bethlehem ist in der That ein Mittelpunkt aller Orte: Denn Er selber, der heute zu Bethlehem Geborene, ist ein Mittelpunkt alles Wesens, aller Wesen, aller Dinge, um den sich Erd und Himmel dankend, feiernd bewegen. Laß dich Krippe und Windel nicht hindern: diesem Knaben zinset die Welt, Sein ist der Weltkreiß und Rom, die Krone Augusti und alle Kronen sind Sein. Gelobet sei, der da kommt in dem Namen des HErrn, und gelobet sei das Reich unsers Vaters David, das da kommt! Die Stunde Seines Kommens war der jahrtausendlangen Wartezeit werth; sie ist auch einer jahrtausendlangen Feier werth. Gesegnet sei die Nacht, da Er erschienen, und gesegnet sei die Stunde Seiner Geburt von allen Creaturen in Ewigkeit, gesegnet von allen Menschen, die da wißen, welch ewigen Reichtum der Vater ihnen allen in dem neugeborenen Christus in die Krippe legte!


 Jedoch kehren wir nun zur Geschichte unsers Textes zurück. Während im Stalle von Bethlehem der Herr der Herrlichkeit geboren wurde, waren die Hirten in derselbigen Gegend auf dem Felde bei den Hürden und hüteten des Nachts ihre Heerde. Sie thaten, was ihres Berufes war, und wurden dabei gesegnet, wie Zacharias bei dem seinen, wie Maria und die Weisen vom Morgenlande, Petrus und viele andere bei dem ihrigen. Zwar ergriff sie bei der

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 031. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/42&oldid=- (Version vom 22.8.2016)