Seite:Wilhelm Löhe - Evangelien-Postille Aufl 3.pdf/416

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

4. Die Vollkommenheit der mitleidigen Hilfleistung JEsu.
5. Die Wirkung des Wunders auf die Menschen.

 1. Taube, namentlich taub geborene, sind oft auch stumm, weil der die Töne der Sprache seiner Eltern nicht nachahmen kann, welcher sie nicht hört. Stummheit ist allein schon ein großes Uebel, denn es ist im Menschen ein großer Drang, sein Inneres zu offenbaren. Auch Taubheit allein ist ein großes Uebel: die Welt wird zum bloßen Bilde für den, welcher ihren Schall nicht vernimmt. Der Taubstumme ist doppelt elend. Gerade diejenigen Sinne und Organe, durch welche die geschaffene Welt dem Herzen nahe gebracht und erst recht lebendig wird, fehlen dem Taubstummen. Wie ausgeschloßen steht er in der Welt − und je theilnehmender seine Seele ist, desto schwerer wird es ihm fallen, wenn der Versuch, sich anzuschließen, so mühevoll ist und so oft mislingt. Er sieht, wie sich die Lippen der Seinigen bewegen, wie alle Glieder, alle Mienen mit der Bewegung der Lippen lebendig werden, wie bald Freude und Traurigkeit, bald Zorn und bald Freundlichkeit, bald diese, bald jene Seelenstimmung unter dem Lippenspiel die Züge der Redenden beleben, − wie von einem Redenden auf den Hörenden sich dieselben Gebärden, derselbe Ausdruck des Auges und der Züge mittheilt und fortpflanzt, − wie eine ganze Gesellschaft bewegt wird, so wie die Lippen sich bewegen. Er sieht es − und es ist ihm so fremd, es wird ihm so wehmüthig zu Muth. Er fühlt sich so einsam in der beweglichen Stille, dem stummen Gewühle der Menschen. Wendet man sich an ihn, so bemerkt er, daß ganz andere Mittel, sich mitzutheilen, angewendet werden, daß die freundlichste Annäherung seiner Lieben mit einer Art von Mitleid, ach von Aufopferung geschieht. Und wie oft muß er warnehmen, daß Ungeduld und Widerwille sich in den Mienen derer ausspricht, die es versuchen, ihm verständlich zu werden. Er weiß, er ist ein Mensch, wie andere, aber ein ganz besonderer, auffälliger, seltener, unbehaglicher, der auch selbst kein Behagen finden kann. Ach, Leidens genug trägt jeder Taubstumme! − Besonders müßen wir aber den Taubstummen des Evangeliums bedauern. Er hört JEsum nicht, − nicht das Wort, das wie ein Feuer alle Welt ergreift! Er sieht Bewegungen unter den Hörenden, Entzückungen, Wunder − Wunder in der ganzen Natur: es ist eine außerordentliche Zeit, welche unter der Lippenbewegung des stillen JEsus geboren wird! Nur der Taubstumme vernimmt’s nicht und kann weder in Alleluja, noch in Hosianna einstimmen. Er lebt in den schönsten Tagen, im herrlichsten Frühling der Erde − aber es scheint ihm aller Segen seiner Geburtszeit genommen zu sein, weil er sie nicht mit erleben kann, weil er nicht hört und nicht nachspricht, was der HErr, welcher das Wort ist, vorspricht. Wie unglücklich ist der Taubstumme! Und doch gab es damals, es ist schrecklich wahr, Leute, die noch unglücklicher waren, als er. Der Taubstumme wandte das verschloßene Ohr umsonst dem HErrn zu, er wollte hören und hörte nichts. Hingegen standen andere rings umher, welche alles, was der HErr sagte, genau vernahmen, aber theilnahmloser, ausgeschloßener von der seligen Bewegung ihrer Zeit waren, als der Taubstumme. Sie hörten die süßen Worte des Evangeliums, sie hörten, wie ringsum die Begeisterung in Seufzen, in lautem Lob und Dank sich kund gab, wie bald ein Weib in die Worte ausbrach: „Selig ist der Leib, der dich getragen etc.“, bald ein Pharisäer rief: „Selig ist, der das Brot ißt im Reiche Gottes“ − oder: „Ich will dir nachfolgen, wo du hingehst.“ Sie hörtens − und blieben kalt: Die Stimmen der Hure, die Stimme des Wechslers, die Stimme des Verläumders, die Stimme des Klagweibes an den Gräbern, die Stimme eitler menschlicher Weisheit − hatte ihr Herz und darum ihr Ohr taub gemacht für das Lied des neuen Bundes. Neben ihnen standen vielleicht noch unglücklichere, die Neider, die Feinde JEsu. Sie vernahmen aus Seinem Munde nur das Echo des eigenen Herzens − nur Neiderregendes, Haßerregendes vernahmen sie. Sie sahen in dem Heiligen Gottes Belials Diener, sie sahen und hörten ihn ganz in ihrer Gestalt. Sie waren umgekehrte Bienen. Denn rechte Bienen sammeln überall Honig, sie aber sammelten von der süßen Rose von Saron nur Gift, ach nur Gift fürs eigene Herz und achteten sich also selbst der Zeit, in der sie lebten, und des Heiles JEsu Christi nicht werth. Wehe, wehe, wehe, wie viel unglücklicher waren sie, als der Taubstumme, welcher dem himmlischen Gnadentage der Freudentage und des Lobgesangs entgegengieng!

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 077. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/416&oldid=- (Version vom 24.7.2016)