Seite:Wilhelm Löhe - Evangelien-Postille Aufl 3.pdf/415

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

das in der Einbildung des Hochmüthigen eine Erhöhung schiene, was vor Gott ein tiefer Fall ist. Ein Sünder liegt im Staube tiefer Thale, aber wer sich der Tugend rühmt, steigt aus dem Thale auf den Fels, um sich von da hinab desto schrecklicher zu betten. O Hochmuth, Hochmuth, wie grausam bist du gegen deine Kinder, du wirfst sie von Moria hinab in Gehenna! − Davor behüte uns, o großer Gott!

 Wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöhet werden.“ Wie? sollen wir uns erst noch erniedrigen? Sind wir denn nicht durch unsre Sünden ohnehin schon so tief erniedrigt, als wir sein können? So fragst du? Du ahnst wohl, daß der Sünder sich nicht erhöhen kann, und doch redet der HErr von Erhöhung. So können wir auch in keiner Weise erniedrigt werden und in keinem andern Sinne, als auch von Erhöhung geredet werden kann. Nicht unsre Tugend, sondern die Schätzung unsrer Tugend soll erniedrigt werden; nicht unsre Schätzung, wohl aber die Stufe unsrer Tugend darf erhöhet werden. Es gibt Menschen, die es auch auf platter Erde und auf kothigen Straßen schwindelt, so dünken sich viele mitten in Sünden etwas zu sein. Den Dünkel sollen wir fallen laßen, uns erkennen, wie uns Gott unser Wesen zeigt, werden wie der Zöllner war, klein, gering, voll Schaam, voll Reu und Selbstgerichtes. Das heißt sich erniedrigen − und das hat die Verheißung der Erhöhung − einer Erhöhung zu Gottes Herzen, zu Gottes Gnaden und zu Gottes Rechtfertigung, daß wir hinabgehen von Moria in die heilige Stadt und in ihren Thoren verkünden, wie selig der Mensch und wie groß der Kleine ist, der Gottes Gnade fand.

 Wenn Du mich demüthigest, machst Du mich groß! Demüthige mich durch Dein Wort, das ist die beste Demuth! Nimm mich mir, das ist, nimm mich von meiner Höhe! Gib mich Dir, Deiner Gnade, das ist erhöhe mich zu Deinem Herzen! Mache mich zum Zöllner, daß ich meinen Brüdern verkündige Dein Erbarmen! Mach mich dazu und laß mich davon reden, daß andre mit mir werden − reumüthige Zöllner! Amen.




Am zwölften Sonntage nach Trinitatis.

Evang. Marc. 7, 31–37.
31. Und da Er wieder ausgieng von den Grenzen Tyrus und Sidons, kam Er an das galiläische Meer, mitten unter die Grenze der zehn Städte. 32. Und sie brachten zu Ihm einen Tauben, der stumm war, und sie baten Ihn, daß Er die Hand auf ihn legete. 33. Und Er nahm ihn von dem Volk besonders, und legte ihm die Finger in die Ohren, und spützete, und rührete seine Zunge, 34. Und sahe auf gen Himmel, seufzete und sprach zu ihm: Hephatha! das ist, thue dich auf! 35. Und alsobald thaten sich seine Ohren auf, und das Band seiner Zunge ward los und redete recht. 36. Und Er verbot ihnen, sie sollten es Niemand sagen. Je mehr Er aber verbot, je mehr sie es ausbreiteten. 37. Und verwunderten sich über die Maße und sprachen: Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht Er hörend und die Sprachlosen redend.

 DEr HErr war eine kleine Zeit auf das phönicische Gebiet gegangen. Da hatte sich die Geschichte mit dem cananäischen Weiblein und ihrer Tochter ereignet. Darnach gieng Er wieder zurück bis an das galiläische Meer oder, was eins ist, zum See Genezareth, auf das Gebiet der zehn Städte. Hier heilte Er einen Taubstummen, deßen Heilung unser Evangelium erzählt und unsre Predigt näher betrachten wird. Wir zerlegen uns zu dem Ende den Inhalt des Textes in folgende fünf Stücke:

1. Das Leiden des Taubstummen;
2. Das Mitleiden der Menschen;
3. Das Mitleid JEsu in der Art und Weise Seiner Erweisung.
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 076. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/415&oldid=- (Version vom 17.7.2016)