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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Denn wer das kann, der hat entweder aus einer erkannten Sünde solche Erkenntnis seines Herzens genommen, daß er weiter keine anzuschauen braucht, oder er hat den Zustand seines Herzens so erkannt, daß es auf einzelne Sünden nicht mehr ankommt: − der hat Buße, wie sie sein soll. Es sind nur fünf Worte, die der Zöllner spricht: „Gott − sei − mir − Sünder − gnädig!“ Aber sieh sie einmal an. „Gott“ − „mir“: da stehen sie gegeneinander über: Gott und Mensch, Gott in Heiligkeit, der Mensch in Schuld, Gott in Höhe, der Mensch im Thale der Verbannung. Welch eine Kluft zwischen „Gott“ − und „mir“! Welch ein Vergleich! Welch’ eine schreiende Wahrheit, die aus diesem Vergleiche kommt! Da muß man doch sich erkennen lernen! Der Zöllner erkannte sich auch. Seine Selbstprüfung war ganz die rechte: er sollte Gottes Bild sein, so verglich er das Bild mit dem Urbild, − das Bild verglich sich mit dem Urbild. Daher das vernichtende Gericht, welches sich im Herzen des Sünders offenbart, das strenge, wegwerfende Urtheil, welches sich von Gott her dem Zöllner aufdringt. Es erfüllt sein Herz, es entströmt seinem Munde: er nennt sich mit tiefer Zerknirschung „Sünder“. Er sagt nicht: „Sei mir Zöllner gnädig“; sein ganzer Beruf verschwindet, all sein Thun, alle Beziehungen seines Lebens lösen sich in Sünden auf, einfach und vollkommen nennt er sich einen Sünder. Ach, was ein Wort in sich faßen, was ein Wort offenbaren, was ein Wort wirken kann, − welch eine Welt voll Lust, aber auch voll Jammers in Einem Worte sein, dargereicht, genoßen sein kann, wenn der Geist des HErrn es im Herzen spricht. Ein Reim beginnt: „Mein Wißen ist: ich bin ein Sünder“ − wenn du dieß Wißen im Geiste und in der Kraft ergriffen hast, wer rettet dich vor deßen tödtender Gewalt? Wohl dir, wohl dir, wenn zur Zeit, da du dies Wort faßest, dir ein anderes Wort gegeben wird, die Bezeichnung einer Sache, die alleine die Sünde überwältigen und aus der Hölle des Sündengefühls in den Himmel des Friedens Gottes einführen kann! Wohl dir, wenn du Gott siehest und um Ihn Gnade, wenn dir das Wort gnädig vom Worte Gott untrennbar wird! Das Recht ist verwirkt, das Verdienst ist verwelkt, der Ruhm ist verdorrt, die Seele des Sünders schmachtet. Wie Regenwolken über dürrem Erdreich erscheint die Wißenschaft, daß Gott gnädig ist, einem Herzen, das sich selbst verdammt. O Gnade, Verheißung, die, wenn alles trügt und flieht, uns bleibt, o Gnade, einzige, einzige Hoffnung des nüchternen Beschauers seiner Nacht, − Gnade, sei gepriesen! Wie die Bäume säuseln und die Gräser und Blumen sich neigen und die Waßer duftender fließen, wenn die Regenwolken nahen, so geht Dir, o gnädiger und barmherziger Gott, im Herzen und Innern alles, alles ahnend, begehrend entgegen − und, welcher Sünder sich und Dich erkennt, − deß Herz wird eines Wunsches, deß Lippen eines Gebetes voll: Sei − sei mir Sünder gnädig! − HErr, des Zöllners Gebet gib mir in meine Seele, − und wenn ich dermaleins vor Dir stehe durch Deine Gnade, Du Gnädiger, wenn Du mein Lied und mein Gebet, wenn Du in mir alles bist, dann gib meinen Kindern dies Gebet in seiner Kraft! Das sei mein Vatersegen! Dann sind sie gesegnet mit Buße, gesegnet mit Glauben, gesegnet mit Erfahrung, die beßer ist, als graues Haar! Dann werden sie bewahrt bleiben vor dem Irrtum der Werke, der eigenen selbsterwählten Opferwerke, − dann wirst Du sie in den Gehorsam führen, der beßer ist, als Opfer!


 Wie aber, Brüder, kommt man denn zu jener herrlichen Buße, die den Zöllner beseelt, die aus ihm spricht, aus Hand und Aug und Mund? Was macht aus dem leichtfertigen Sünder, der sich von allen Sünden lachend absolvirt, ehe er sie begeht und ihre Schuld weglöscht, wie die Speise vom Munde, − was macht aus dem Gottvergeßenen, den kein Andenken des Zeugen über den Wolken, keine Erinnerung des Todes und Gerichtes von Sünden abschreckt, − was macht aus dem Menschen, der für Gott todt ist, für den Gott, ach verzeih, mein HErr, wie todt erscheint: was macht aus dem den tiefbetrübten, sehr erschreckten, gewißensvollen, gnadehungrigen Sohn? Etwa die Thränen der Mutter, des Weibes, − etwa die grelle Nachahmung der Kinder, − etwa Schicksal und Noth? Erwarte es nicht. Dieß alles ist unbefruchteter Saame, wenn das Wort nicht hinzukommt. Das Wort des HErrn, das Himmel und Erde erschuf, das Wort, welches vom Sinai schreckt, und vom Golgatha tröstet, − Gesetz und Evangelium, in richtiger Theilung, in heiliger Verbindung nach der

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 074. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/413&oldid=- (Version vom 17.7.2016)