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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Worin sich nun seine Reue äußere, das wollen wir vor unser betrachtendes Auge führen und den HErrn bitten, daß die Betrachtung fremder Reue uns Lust zur Reue und, wenn möglich, Reue selber wirken möge.

 Seine Reue spricht sich in doppelter Weise aus, stumm und laut, stumm in Gebärden, laut in Worten, immer aber auf eine unzweideutige Weise. Und gegen den Pharisäer gehalten, welcher zugleich mit ihm im Tempel steht, sticht sein Beispiel ab, wie nur immer ein Gegentheil von dem andern abstechen kann. − Bei dem Pharisäer hebt der evangelische Text mit den Worten „er stand“ die Gebärde dermaßen hervor, daß man ihn so ziemlich stehen sieht in selbstvergnügter, anspruchsvoller Ruhe. Wie ganz anders ist des Zöllners Gebärde beschrieben. „Er stand von fern“ − heißt es von ihm. Warum steht er von ferne, warum sucht er den Winkel des Tempels auf? Das Bewußtsein seiner Unreinigkeit hält ihm den Fuß zurück, nicht wie ein Berechtigter im Hause des HErrn hervorzutreten. Er hält sich selbst nicht werth, Gott nahe zu kommen. Kein Selbstvertrauen − ach, nur ein schüchternes Vertrauen zum HErrn selbst zeigt sich. Er sucht den HErrn in Seinem Tempel, er will von Ihm nicht getrennt sein − und gewinnt es doch auch nicht über sich, Ihm und dem Heiligtume sich mehr zu nähern. Ja, nicht allein sein Fuß wagt sich nicht näher, auch sein Auge, das, wie aller Menschen Augen, vorwärts strebt, hält sich gewaltsam zurück: „er wollte auch seine Augen nicht aufheben zum Himmel.“ Heilige Schaam, Morgenroth der Wiedergeburt, − du bist so schön auf der Wange deßen, der in sich selber keine Hoffnung mehr hat! Dich soll man keine Gebärde nennen, es sei denn daß man dich nenne eine Gebärde, ja einen Glanz Deßen, der da kommt im Namen des HErrn, selig zu machen aus Seiner heiligen Höhe! Der verlorene Sohn in seinen Lumpen und in seiner Nacktheit, in seinem Hunger und Durst reizt das Erbarmen bei seiner Rückkehr zum Vater mehr. Aber die Schaam des Zöllners im Tempel ist lieblicher und erweckt die Freundlichkeit und Leutseligkeit Deßen, der die Gottlosen mit Seiner Gerechtigkeit schmückt, nachdem ER ihre Sünden vergab! O daß wir im Gefühle unsrer Sünden schüchtern würden, daß auf unsre in Welt und Sünde verbrauchten Züge die Schaamröthe, wie das Zeichen der kommenden ewigen Jugend, wiederkehrte, − daß kein Sünder unter uns mehr mit frecher Stirne und herausforderndem Auge aufträte! Der Du mich verneuerst zur Jugend der Ewigkeit: daß ich mich von ganzem Herzen vor Dir schämen könnte!

 Doch zurück zum Zöllner. Sein Auge hebt er nicht auf zu Gott: aber seine Hand hub er auf und schlug an seine Brust. Was wollte er mit den zur Brust geführten Schlägen? Was ists, das in ähnlichen Nöthen auch unsere Hand hebt? Solls ein Zeugnis sein, daß es innen in der Brust schlägt und unruhig ist? Ist der Schlag der Hand nur ein äußeres Zeichen von dem innern Herzens- und Gewißensschlag? Kann sein, doch sind die Schläge des Zöllners zu stark geführt, und es dürfte wohl in ihnen noch etwas anderes ausgesprochen sein, − es dürften diese Schläge eine Andeutung von Selbstgericht sein, daß der Zöllner sich der Schläge Gottes würdig achte, ein Vollziehen des Urtheils, deßen er sich im Himmel bewußt ist, ein Vorspiel deßen, was kommen wird, durch die eigene Hand vollführt. Ach, ein wahrer Handschlag, den Tausende seitdem geführt, den auch ich führe vor Dir, o Gott, und jammernd spreche: „Meine Schuld, meine Schuld!“ Doch so ergreifend die Gebärden des reumüthigen Sünders sind, in denen er vor Gott steht; so ist doch über den Gebärden der Erguß seines Bekenntnisses in Worten nicht zu vergeßen! Es muß ein starkes Gefühl der Sünden in ihm gewesen sein, ein überschwängliches Bewegen in seiner Seele! Denn er findet zwar nicht viele Worte, aber Worte centnerschwer: die, seitdem sie gesprochen und vom HErrn veröffentlicht, die Christenheit nicht mehr vergeßen konnte, in welche viele tausend tiefgebeugte Sünder ihr gepreßtes Herz ergoßen! Ach, die Noth lehrt oft durch Gottes Gnade beten, die Noth findet aber auch oft eine Beredtsamkeit weniger Worte, über welche Jahrtausende erstaunen! So ists mit den Worten des Zöllners, von welchem der HErr einen Theil Seines Gleichnisses nahm! Es muß ein Zöllner gelebt haben, der so betete, − denn das tiefste Leben der Buße liegt in seiner Beichte! Sie gefiel auch Dem, der unser Beichten hört, dermaßen, daß Er sie durch Sein Gleichnis unsterblich machte und, wenn man so sagen darf, zu einer Art von Generalbeichte erhob! Ach, mit diesen Worten, lieber Vater, mit dem Bewußtsein, dem Geiste dieser Worte laß uns beichten!

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 073. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/412&oldid=- (Version vom 17.7.2016)