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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

da einer wirklich beßer ist, als andre Leute und dann ist natürlich sein Dankgebet keine Sünde. Aber wenn ein Mensch, der in aller Blöße des unbekehrten Wesens vor Gott steht, so schamlos ist, seinen Zustand als den Gipfel alles geistlichen Wohlverhaltens und Wohlbefindens, als ein besonderes Werk des HErrn vor Gottes eigenem Angesichte zu bekennen; so ist das nicht allein eine schauerliche Verrücktheit, sondern auch, sofern ein solcher Mensch zurechnungsfähig ist, eine Lästerung des Heiligen und Vollkommenen. − Ach, daß wir aufhörten zu lästern und Gott über unsere sündliche Verkehrtheit zu preisen! Daß uns doch endlich einmal die Augen recht aufgiengen, zu erkennen, daß nichts Häßlicheres, nichts Lächerlicheres, nichts Bedauernswürdigeres ist, als ein Stolz auf Dinge, die keine Vorzüge sind, oder auf Vorzüge, welche man nicht besitzt.


 Bei einer so schauderhaften Höhe des Verderbens, wie das Gebet des Selbstgerechten ist, läge keine Frage näher, als die: „Wie rottet man dies Uebel mit der Wurzel aus?“ Aber eben die Beantwortung dieser Frage hängt wieder ganz von der Erkenntnis der Wurzel ab. „Was ist die Wurzel der Selbstgerechtigkeit? Woher kommt sie?“ Das muß deshalb die nächste Frage sein, die uns bekümmere. Die Wurzel ist zweigespalten, − in der Samenkapsel liegen zwei Samenkörner nebeneinander. Denn die Selbstgerechtigkeit hat nichts anderes zum Grunde, als einen Mangel an Erkenntnis Gottes und unsrer selbst. Der Selbstgerechte kennt Gott nicht, er begreift nicht nur nicht, sondern er ahnt nicht einmal, was das heißt: „Gott“ und „vollkommen“ sein. Er sieht nicht nur nicht ins Licht, das Gott umgibt, denn wer könnte das? sondern er wird auch nicht davon erschreckt, geblendet, in den Staub gebeugt. Das Volk am Sinai floh vor dem, der aus den Wolken redete, und offenbarte damit, wie einen großen Abstand von Gott und Seiner Heiligkeit es im Herzen inne wurde. Dagegen der Selbstgerechte steht dummkühn am Berge der Schrecken oder vielmehr, er gleicht dem Heiden, der seinen Gott nach seinem eignen Bilde zimmert; statt in Heiligkeit und strenger Forderung der Gerechtigkeit ein Bild des vollkommenen Schöpfers zu sein: wird er ein Schöpfer seines Gottes − und seines Gottes Gerechtigkeit ist ein Abbild der eigenen Gerechtigkeit. Er fertigt sich Gott und den Begriff göttlicher Gerechtigkeit nach seinem kleinen Maße, und mißt sich dann daran − natürlich zu seinem Lobe und Preise. − Sieh nur, wie der Pharisäer die Gebote Gottes auslegt, nicht weiter, als sie zu seinem Vortheil ausfallen können. Raub, Ungerechtigkeit, Ehebruch, Zöllnerei − das ist das Verzeichnis seiner Verbote, − diese Verbote sind sein Gesetz. Nichts von Liebe, Furcht und Vertrauen, − nichts von dem Namen über alle Namen, nichts von Anbetung der Seele, − nichts von Vater und Mutter, − − nichts von geistlichem Sinne des Gesetzes ist ihm bekannt. Wie klein ist sein Gesetz, wie leicht zufrieden sein Gott! Dem kann er freilich dienen und mit seinem Geben seines Gottes Fordern überbieten. Bei solcher Gottes- und Gesetzerkenntnis gibt es einen Gehorsam, der mehr leistet, als er schuldig ist, − da gilt, da spricht man, hört man ohne Angst ein: „Thue das, so wirst du leben,“ − da kommt statt der Beichte der eigene Ruhm: „Das habe ich Alles gehalten von meiner Jugend auf.“ − Ach wie blind, wie blind ist der, welcher je in seinem Leben dahin gekommen zu sein oder dahin kommen zu können wähnt, daß er den Forderungen des Gesetzes genüge. Du bist so heilig, HErr, in Deinem Gesetze − und wir so unheilig, so tief verderbt, so gar die umgekehrten Tafeln Deiner Gebote, das Gegentheil deßen, was Du bist, und von uns willst! In Sünden waren wir, da unsre Mütter uns empfiengen, wie Dein heiliger Geist zeuget, − unser Dichten ist böse von Jugend auf, von uns selber vermögen wir nichts Gutes zu thun, zu reden, zu denken, − was könnte Dir an uns gefallen? Was könnten wir Dir bieten nach Deinem Sinn, zu Deinem Wohlgefallen? Nicht einmal das Bekenntnis unsrer Armuth, geschweige ein Misfallen an ihr vermögen wir Dir darzubringen. Und der selbstgerechte Pharisäer meint mehr thun zu können, schon gethan zu haben, als du gebeutst!? Wie wenig kennt er sich! Wahrlich vom Dornstrauch und von der Distel erwartet er Feigen und Trauben, − ja er nimmt sie davon, nie anders, als weil er niemals Feige und Traube sah! Er weiß nicht was er thut! Wenn er wüßte, wie blind, wie thöricht er ist, er würde sich in die Löcher der Erde vor Schaam verbergen. Wenn er wüßte, wenn ers glauben könnte,

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 071. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/410&oldid=- (Version vom 17.7.2016)