Seite:Wilhelm Löhe - Evangelien-Postille Aufl 3.pdf/41

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

 Halten wir, geliebte Brüder, hier ein wenig inne und beschauen, was wir übersichtlich erzählt haben.

 Zu Rom herrscht Kaiser Augustus und es gehorcht ihm ein so großes Reich, daß er es den Weltkreiß nennen konnte. Die edelsten, begabtesten und gebildetsten Völker der damaligen Welt waren seine Unterthanen. Auch das jüdische Volk war ihm unterworfen. Von ihm empfieng es Fürsten und Pfleger; der Juden Könige aus dem Hause Herodis setzte er ein und ab nach Wohlgefallen. Er gebietet in dem fernen Rom, da fürchten sich alle Juden und gehen in ihre Stammstädte, um sich schätzen zu laßen. Selbst die Nachkommen des größten aller Könige Judä und Israels, des Königs David, gehen gehorsamlich hin gen Bethlehem, zur Wiege ihres Stammvaters, und laßen sich schätzen − von den Amtleuten eines heidnischen Kaisers. − Sehet da, wie ist Jakobs Weissagung in Erfüllung gegangen! Das Scepter ist von Juda gewichen, die Juden sind worden wie andre Völker um sie her, sie sind die Beute eines fremden Herrschers geworden. Drum kann es nicht anders sein: die Zeit ist da, der Held muß kommen, welchem die Völker anhangen, der König und Beruhiger der Heiden!

 Und vergeßet es nicht, meine Brüder, wir sind in Bethlehem. Das ist nicht allein Davids Stadt, sondern auch die Stadt Des, der da kommen soll, des Königs, welchem der HErr den Stuhl Seines Vaters David geben will ewiglich. Oder ists nicht so? Ist das nicht weltbekannt? Wol ist die Stadt klein im Vergleich zu mancher andern: aber dennoch hat der HErr sie vor allen erwählt und durch Micha (5, 1) gerufen: „Du Bethlehem Ephrata, die du klein bist unter den Tausenden Juda, aus dir soll mir der kommen, der in Israel Herr sei, welches Ausgang von Anfang und von Ewigkeit her gewesen ist.“ Obwol klein an Umfang, wird nun die Stadt groß an Ruhm und der Evangelist Matthäus (2, 6.) sagt drum ganz richtig im Geiste der Erfüllung: „Du Bethlehem im jüdischen Lande, bist mit nichten die kleinste unter den Fürsten Juda.“ Es gibt Städte genug, welche mit andern eifersüchtig um die Ehre streiten, Geburtsorte dieses oder jenes großen Mannes zu sein; aber keine Stadt streitet mit Bethlehem, vor ihr senkt jede Stadt der Welt Fahne und Lanze, ihr gehört unbestritten die Ehre, Geburtsort des größten unter allen Männern und Menschen, des allerhöchsten Königs, des Menschensohnes, des Sohnes Gottes zu sein.

 Auf diese Stadt Bethlehem, die klein ist und doch so groß, lenke ich eure Augen und mache euch aufmerksam auf Eine, die, obwol von den Einwohnern und Gästen Bethlehems unbeachtet, obwol im Stalle herbergend und verborgen, von Gott erlesen ist vor allen Frauen der Welt und von Engeln die „gebenedeite unter den Weibern“ genannt worden ist. Ja, auf sie hin richte ich euer Andenken. Vornehmerer Abkunft, oder, mit den Vätern zu reden, höherer Abkunft ist keine Königstochter, war keine, wird keine sein; denn diese ist eine Tochter Abrahams und Davids. Oder weiß jemand eine Tochter adeligeren Stammes? Und sie ist eine Jungfrau, von keinem Mann erkannt, obwol dem Zimmermann Joseph vertrauet: Jungfrau ist sie und dennoch Mutter. Keine Demüthigere, Reinere, Heiligere ist je auf Erden gewesen: das ist die Holdselige, über welche der Geist Gottes gekommen, welche die Kraft des Höchsten überschattet hat, von welcher der Sohn des Allerhöchsten Menschheit angenommen hat; sie heißt und ist, wie das die Kirche aller Zeiten bekannte, die Mutter Gottes. Ueber ihr unendlich erhaben steht ihr Sohn; wir geben ihr von der Ihm gebührenden Ehre auch nicht den Schatten: ER ist einzig und unter Seinen Anbetern und Anbeterinnen ist sie die erste. Aber was ihr gebühret, das sei ihr zuerkannt, und das ist immerhin genug, ihr eine Ehre vor allen Frauen zuzusprechen. Der Frauen Ehre ist ihre Mutterschaft; die Ehre der seligen Jungfrau Maria ist ihre Mutterschaft. Selig ist der Leib, der Ihn getragen, und die Brüste, die Er gesogen hat! Maria ist nicht unter uns und wir haben auch keine, nicht die leiseste Weisung, sie anzurufen; wenn wir aber dermaleins in die Stadt Gottes kommen und sie sehen werden, dann wollen auch wir sie liebend und ehrend mit dem Engelgruße anreden und ihr entgegenrufen: „Gegrüßet seist du, Holdselige!“

 Brüder, diese stille Magd des HErrn an den verheißenen Ort ihrer Geburt zu bringen, mußte sich jene große Bewegung einer allgemeinen Schatzung im römischen Reiche ereignen. Welch eine Bewegung in dem ganzen Reiche, welches sich den Erdkreiß nannte − und wozu? Um eine Jungfrau, die wir kennen,

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 030. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/41&oldid=- (Version vom 22.8.2016)