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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Zehentgeben von aller seiner Einnahme hätte nicht nothwendig Selbstgerechtigkeit sein müßen; aber es ist starrende Selbstgerechtigkeit, weil er damit Gottes Forderungen überbieten und mehr thun will, als er schuldig ist, weil er darauf hin Gottes Wohlgefallen in Anspruch nimmt.

 Wäre nur der Pharisäer, von welchem der HErr spricht, so gewesen, so könnten wir fröhlich sein; sein Beispiel föchte dann uns nicht an. Aber der HErr will nicht das Andenken eines einzigen Selbstgerechten verewigen; sondern Er will durch die misfällige Darstellung Eines Beispiels eine ganze nie aussterbende Classe von Menschen heilsam erinnern und durch Seinen Tadel zur Erkenntnis bringen. Ja, was sage ich, Er will das menschliche Herz in seiner angeborenen, sich täglich neu erweisenden Eigentümlichkeit schildern. Nicht einer von uns, wir alle sind von Natur so, wie der Pharisäer. Wir sehen anderer Leute Sünden sehr scharf, unsere eigenen, oft dieselben, welche wir an andern tadeln, vergeßen wir auf eine unbegreifliche Weise. Weh dem, der uns, wie Nathan dem König David, sagen würde: Du thust selbst, um weswillen du andere für unwerth achtest zu leben. − Das Gute, will sagen Scheingute, welches wir in unserm Leben auffinden können, betrachten wir mit demselben Wohlgefallen, mit welchem ein eitles Weib einen etwa entdeckten schönen oder geistreichen, d. i. schön oder geistreich sein sollenden Zug ihres Angesichtes im Spiegel studirt. Ja, mit einer so unbilligen Verehrung unser selbst betrachten wir unsere vermeinten geistlichen Schätze und Vorzüge, daß uns wie lauteres Gold und Silber erscheint, was wir bei einer nüchternen Beurtheilung als pures Kupfer oder gar als bloße Scherben erkennen würden. − Dazu belügen wir uns nicht allein durch Uebertreibung, sondern unser alter Mensch übt noch eine schlimmere Kunst. Denn wir finden im Grund doch zu wenig Gutes an uns, als daß wir zufrieden sein könnten. Da muß das Böse gut genannt werden, oder es muß durch Einbildung ersetzt werden, was in Wahrheit mangelt, oder nennt man nicht das Böse gut, wenn man Betrug Klugheit, den Geiz Sparsamkeit, Hurerei und Unreinigkeit eine menschliche Schwachheit, wohl gar eine verzeihliche Jugendlust − und viele andere Laster sogar mit den Namen der gegentheiligen Tugenden benennt? Und wenn wir uns einbilden, Christen zu sein, weil wirs nicht sind, und uns für vortrefflich halten, während in der Tiefe der Seele ein unruhiger, nicht zu beschwichtigender Zeuge die Erinnerungen an unsre Sünden schärft, gleichen wir nicht dem armen Narren, der im Strohkranz eine Braut und in Lumpen ein Kaiser im Purpur zu sein glaubt? − Ach HErr, ach HErr, laß uns erschrecken über uns selbst − und unser Stolz zerbreche, wenn Dein Geist das Wort: „Pharisäer“ in uns ausspricht und über uns ausspricht, wie ein Richter, der den Stab bricht.


 Wir haben nun wohl gefunden, was Selbstgerechtigkeit sei. Aber wenn wir die Aeußerung der Selbstgerechtigkeit bedenken, welche der HErr in unserm Texte schildert; so wird sie uns doch noch grauenhafter und wir müßen, ach vor unserm Bild, erschrecken, wie ein Abzehrender, der sich lange nicht gesehen und sich vor seinem Ende noch einmal im Spiegel beschaut. − Die Aeußerung von der wir reden, ist das Gebet. Wenn man einen Trunkenbold Sauflieder singen hört, ist er abscheulich; aber wenn er anfängt zu predigen, ist er doch viel häßlicher. Jede Sünde ist in dem Maße grauenhafter und schrecklicher, als sie in Gottes helles Licht tritt. Je glänzender und reiner das Licht, desto schwärzer ist die Finsternis. So ist ein Selbstgerechter, wenn er betet, am allerhäßlichsten, zumal wenn man bedenkt, was ein solcher seiner Natur nach nur beten kann. Seine Fehler sieht er nicht, dafür desto mehr Vortrefflichkeit. Er ist ja satt − er hat ja genug, was bedarf er noch, was hätte er noch zu bitten? Es ist für einen solchen vom eigenen Glanze verblendeten Menschen schon genug, wenn er Gott noch einen Antheil an der Ehre seines Zustandes, seiner Tugend läßt. Oder soll man lieber sagen, ein solcher hält seine Vollkommenheit für so groß, daß er sie nur für ein göttliches Werk erkennen, nur Gott als Ursächer und Schöpfer preisen kann? Kurz, zu bitten gibts da nichts mehr, wo nichts mehr fehlt, aber zu danken desto mehr. Drum ist das Gebet des Selbstgerechten, wenn er in demselben von seinem Seelenzustand und Wandel redet, nur ein Dank- und Lobgebet. Weit über andere sieht er sich von Gottes Hand erhaben; darum spricht er: „Ich danke Dir, Gott, daß ich nicht bin wie andre Leute.“ − Es läßt sich ein Fall denken,

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 070. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/409&oldid=- (Version vom 17.7.2016)