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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Zeit ist, wird bedacht, wird geglaubt, wird befolgt und gethan werden, was zum Frieden jenes Tages dient. Brüder, Schwestern, hören wollen wir, denn das können wir. Die Ohren Ihm leihen wollen wir, so werden sie geöffnet werden für Seine Stimme, und wir werden die Stimme des guten Hirten erkennen. ER wird uns dann mit Seiner Stimme leiten − vom Abgrund der Finsternis ins Reich der Gnaden und dort der Herrlichkeit!

 Du Hirte Israel’s, höre! der du Joseph hütest, wie der Schafe, erscheine, − der du sitzest über Cherubim! − − Laß leuchten dein Antlitz, so genesen wir! Amen. (Ps. 80, 2.)




Am eilften Sonntage nach Trinitatis.

Evang. Luc. 18, 9–14.
9. Er sagte aber zu Etlichen, die sich selbst vermaßen, daß sie fromm wären, und verachteten die Andern, ein solch Gleichnis: 10. Es giengen zween Menschen hinauf in den Tempel, zu beten; einer ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. 11. Der Pharisäer stand und betete bei sich selbst also: Ich danke Dir, Gott, daß ich nicht bin wie andere Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch wie dieser Zöllner. 12. Ich faste zweimal in der Woche, und gebe den Zehnten von allem, das ich habe. 13. Und der Zöllner stand von ferne, wollte auch seine Augen nicht aufheben gen Himmel; sondern schlug an seine Brust, und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig! 14. Ich sage euch: Dieser gieng hinab gerechtfertiget in sein Haus vor jenem. Denn wer sich selbst erhöhet, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöhet werden.

 DA sich etliche in Gegenwart unsers HErrn vermaßen, daß sie fromm wären, und andere verachteten, stellte ihnen der HErr in einem Gleichnisse vor die Augen, wie viel vorzüglicher demüthiges Bekenntnis der Sünde sei, als der Eigenruhm des Selbstgerechten. − Wie es sich ziemt, schließen wir uns an die Worte unsers HErrn an und betrachten zuerst die Selbstgerechtigkeit des Pharisäers und dann die bußfertige Demuth des offenbaren Sünders.

 1. Ein Pharisäer wird von dem HErrn als Beispiel der Selbstgerechtigkeit aufgestellt, offenbar deshalb, weil die hervorstechende Eigentümlichkeit der Pharisäischen Secte den Menschen vorzugsweise in die Gefahr der Selbstgerechtigkeit versetzte, − wenn schon nicht deshalb, weil grade alle Pharisäer unausweichbar und nothwendig selbstgerechte Heuchler hätten sein müßen. Wir können deshalb die Antwort auf die Frage: Was ist Selbstgerechtigkeit? nicht im Angesicht und Leben eines jeden Pharisäers lesen; sondern wir brauchen dazu das Angesicht und den Wandel eines Pharisäers, wie der war, den uns unser HErr im Evangelium beschreibt. Den faßen wir ins Auge und da finden wir denn, daß Selbstgerechtigkeit Blindheit für die eigenen Fehler sei, und übermäßige Schätzung des vorhandenen Guten, unwahre Beurtheilung des Guten nach Menge und Lauterkeit. Der Pharisäer ist nicht deswegen ein Selbstgerechter, weil er die Sünden anderer Leute, Räuber, Ungerechter, Ehebrecher, Zöllner sieht; sondern weil er seine Sünden, z. B. den Hochmuth, mit welchem er sich nicht allein über andre Leute erhebt, sondern auch mehr, als Gott in Seinem Gesetze verlangt, zu leisten glaubt, − nicht sieht. Er ist nicht deshalb ein Selbstgerechter, weil er es für recht und dankenswerth erkennt, nicht geraubt, nicht Ungerechtigkeit und Ehebruch geübt zu haben; aber daß er thut, als wäre, wer diese Sünden nicht begangen, schon gerecht, daß das Register der Tugenden bei ihm so klein ist, das ist ein schlimmeres Zeichen und bereitet uns auf die üble Entdeckung vor, daß er ein selbstgerechter Thor sei. Sein Fasten, sein

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 069. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/408&oldid=- (Version vom 17.7.2016)