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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Richters, vor dem sie bereits stehen, verborgen! − Krankheiten ergreifen uns, untrügliche Zeichen der untergrabenen, bald gar hinstürzenden Lebenskraft warnen uns, wir können das Zeitliche nicht mehr genießen, gewaltsam werden wir aus dem Treiben unsrer Tage herausgerißen und der Allmächtige drückt uns auf das Schmerzenslager, das Siechbette mit der Weisung nieder: „Bis hieher und nicht weiter!“ Aber wir verstehen seine Strafe nicht. Der Tod zittert manchem schon in den Adern, schon erkaltet der Leib, schon röchelt die Brust, schon erblindet und bricht das Auge; und der Sterbende träumt noch in Hoffnung von einer Crisis, die zur Genesung führt, und mancher letzte Hauch ist in Hoffnung irdischen Glücks entschwunden. So verborgen ist dem Menschen der Tod, − so verborgen seit Jahrtausenden die seit Jahrtausenden untrügliche Botschaft: „Mensch, du mußt sterben!“ Und wir wundern uns, daß die Botschaft vom jüngsten Gericht, von der letzten, großen Heimsuchung des Zornes Gottes oft genannt und dennoch so unbekannt ist. Schon Moses lehrt vom Tode: „Das macht dein Zorn, daß wir so vergehen, und dein Grimm, daß wir so plötzlich dahin müßen“ (Ps. 90, 7.) − und spricht mit Wahrheit: „Wer glaubets aber, daß du so sehr zürnest? Und wer fürchtet sich vor solchem, deinem Grimm?“ (V. 11.) Was täglich − heute mir und morgen dir − geschieht, findet keinen Glauben, bleibt ein allgemeines, öffentliches Geheimnis; und es sollte uns wundern, wenn die Verkündigung vom Ende der Tage, welche nur Ein Mal in Erfüllung gehen kann und noch nicht in Erfüllung gehen konnte, − ein verborgenes Räthsel und vor der Welt ein Mährchen ist, wenn man heut zu Tage noch überall in Kain’s Pallästen und Hütten unüberwunden glaubt behaupten zu dürfen: „Nachdem die Väter entschlafen sind, bleibt es alles, wie es vom Anfang der Creatur gewesen ist“? (2. Petr. 3, 4.)

 Nicht einmal verwundern, nicht einmal verwundern dürfen wir uns über das erschreckliche Loos der Menschheit, mit sehenden Augen nichts zu sehen, mit hörenden Ohren nichts zu hören, mit fühlenden Herzen nichts zu fühlen − von dem, was ewig, ewig unglückselig macht!? Gewöhnen müßen wir uns, o Jammer, klare Offenbarungen Gottes, nicht Träume der Menschen, verborgene, apocryphische Lehren nennen zu hören!? Die Heimsuchung gegenwärtiger Gnaden wird sammt der Weißagung kommender Gerichte für zu schwach erfunden, um den Menschen zur Erkenntnis und zum Bedenken deßen zu bringen, was zu seinem Frieden dient!? In Finsternis und Nacht zieht die Menschheit über die Erde, durch die Zeit zu einer noch schrecklicheren Nacht und Finsternis der ewigen Ewigkeit!?


 5. Das wären bittere Fragen der Verzweiflung! Aber sie finden ihre Lösung, − eine Lösung, die das Herz tröstet. Nein, in Gottes Namen nein! Weder die Heimsuchung der Gnaden, noch die kommende Heimsuchung des Gerichts wird wirkungslos gepredigt. Es gibt Menschen, welche die Zeit erkennen, darin sie heimgesucht sind; es gibt Menschen, welche durch Betrachtung der zukünftigen Gerichte Gottes zu desto größerem Fleiße erweckt werden und bedenken, was zu ihrem Frieden dient. Es gab solche Menschen, es gibt sie, es wird sie geben, − nicht über alle weint hier der ewige Gottessohn, nicht alle wird ER dort verdammen!

 Willst du Menschen wißen, welche die Gnadenzeit erkannten, so weise ich dich auf diejenigen, welche am Palmensonntage zunächst bei dem König JEsus giengen, − so nenn ich dir die Jünger, die Eilfe, − so nenn ich dir Lazarum und seine Schwestern, − Nikodemus und Joseph von Arimathia. Und wie manche kann ich dir nicht nennen, wie manche wird dir erst der Himmel offenbaren! Der HErr hat allezeit Seine heilige Kirche auf Erden gehabt, die Ihn nicht allein in Hoffnung zukünftiger Herrlichkeit, sondern auch voll Dankes für bereits empfangene und erkannte Gnadengüter pries. ER hatte sie allezeit und hat sie noch!

 Und willst du Menschen wißen, denen offenbarte Gerichte der Zukunft nicht mehr Geheimnisse waren, die bedachten, was zu ihrem Frieden diente in der bösen Zeit, die da kommen sollte; so nenne ich dir die Christen, welche zur Zeit der Zerstörung in Jerusalem wohnten. Sie erkannten die Zeit der Gnaden, darum entflohen sie dem Gerichte. Sie wurden vom Geiste des HErrn erleuchtet, zu erkennen den Greuel der Vernichtung und zu thun nach den Worten des HErrn, der da spricht: „Wenn ihr sehen werdet den Gräuel der Verwüstung, davon gesagt ist durch den Propheten Daniel, daß er stehe an der heiligen Stätte,

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 067. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/406&oldid=- (Version vom 17.7.2016)