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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

„Dieser ist’s, der da kommt mit Waßer und Blut, nicht mit Waßer allein, sondern mit Waßer und Blut,“ zeugt Johannes. Wo ist denn das Waßer, mit welchem der HErr kommt? Es ist das gnadenreiche Waßer des Lebens, das Bad der neuen Geburt, das Waßer der Taufe, mit ihm kommt der HErr! Erkennet in unscheinbarer Begleitung den HErrn der Herrlichkeit und Gnade! − Und wo ist denn das Blut, mit welchem der HErr kommt? Siehe, es ist das Blut des Abendmahles, das du mit dem Weine empfängst! Wie mit dem Weine das Blut, so kommt mit dem Blute der HErr! − Welch eine Heimsuchung! Lernet sie und in ihr den HErrn erkennen, damit nicht zu euch gesagt sei von der Zeit euers Lebens: „Du hast nicht erkannt die Zeit, darinnen du heimgesucht bist!“


 4. Ach, aber es ist wenig Erkenntnis der gnädigen Heimsuchung des HErrn! Wort und Sacrament, der Dienst der heiligen Kirche, werden nicht als eine Heimsuchung des HErrn erkannt, werden andern Erdendingen gleich geachtet. So leuchtet dann die Sonne der Gnaden, und in selbsterwählter Finsternis wandelt der größere Theil der Menschheit, − mich schaudert, zu sagen: der Christenheit − seinen Lebenstag dahin. Darum offenbart uns der HErr die Zukunft des Gerichts, Seine Heimsuchung in Gerechtigkeit. Wirkt auf uns die Heimsuchung der Gnaden nicht, wie ERs wünscht; so soll uns der Anblick Seiner feurigen Tage des Gerichts erschrecken. Erwärmt uns der Sonnenschein der Gnaden nicht, so soll Gehennas unverlöschliche Gluth und Flamme uns bewegen, den Fuß auf dem Pfade der Hölle rückwärts zu setzen. Jerusalems Feuersäule soll uns an die Höllengluth erinnern! − Aber ach! es ist wenig Hoffnung, daß den der Hölle Gluth erschrecke, den die Sonne der Gnaden nicht erwärmt hat. „Wenn du es wüßtest,“ spricht der HErr über Jerusalem, − und verkündigt ihrs dann, daß ein schreckliches Schicksal ihrer wartet. Sie konnte es wißen, sie hörte es ja, und nicht bloß ein Mal. Dennoch spricht der HErr: „Aber nun ist’s vor deinen Augen verborgen.“ − Deutlicher, als Jerusalem der Untergang, ist uns das Ende der Welt und das Gericht, ist uns der Tod und die Entscheidung unsers ewigen Looßes geoffenbart. Erst heute ist uns darüber manches kund gethan mit Gottes eigenen Worten. Und doch, und dennoch, obwohl wir unserm und der Welt Ende stündlich näher treten, wird die Kenntnis nicht zur kräftigen Erkenntnis, und die Offenbarung, die uns erleuchten will, verhindert nicht, daß auch von uns gesagt sei: „Nun ist es vor deinen Augen verborgen.“

 Ach wie wahr ist dies „verborgen!“ Wir lesen in der Geschichte der Zerstörung Jerusalems, daß die Juden nicht bloß die Weißagung Christi und Stephani (Ap.-Gesch. 6, 13. 14. im Zusammenhang mit Cap. 7.), sondern auch spätere Weißagungen und Zeichen verachteten. Je drohender sich das Wetter über Juda und Jerusalem zusammenzog, desto weniger sahen sie es, desto sicherer wurden sie, desto mehr lullten sie die armen, unruhigen Herzen mit dem Wahne göttlicher Gnade ein. Die vielen Tausende von Kreuzen, an welchen in den Thälern von Jerusalem ihre Brüder sterben mußten, erinnerten die Belagerten nicht an Christi Kreuz, nicht an die kommenden Strafen für den Mord des Sohnes Gottes. Der Gräuel der Verwüstung an heiliger Stätte, auf welchen nicht allein der HErr, sondern auch Daniel 9, 27. aufmerksam gemacht hatte, war für sie umsonst verkündigt nicht allein, sondern auch umsonst erfüllt. Da bereits der Tempel und seine Umgebungen brannten, glaubten sie noch einem Lügenpropheten, der ihnen Errettung verhieß, wenn sie eine der Tempelhallen besteigen würden und 6000 leichtgläubige Weiber und Kinder verharrten und verbrannten auf der Halle. − So gar verborgen blieb den Augen dieses Volkes die Heimsuchung des Zornes Gottes. So gar, so schrecklich wahr ist das Wort des HErrn gewesen: „Nun ist es vor deinen Augen verborgen.“

 Und läßt sich denn dieselbe schreckliche Wahrheit nicht auch unter uns nachweisen? Von dem Ende nicht zu sprechen, welches der Welt gedroht ist, wollen wir nur einmal auf das Ende des Lebens sehen. Unsre Tage fallen ab vom Baume unsres Lebens, wie welke Blätter, unsre Kräfte sinken, unser Auge wird matt, das Haupt wird grau, das Alter, der sichre Vorbote des Todes, naht herzu. Und doch gibt es Greise, welche am Ende ihrer Tage noch weitaussehende Pläne machen, die mit fast erblindeten Augen noch in weite Fernen zeitlicher Hoffnungen schauen, denn es ist in ihren Augen der Tod, der sie bereits an der Hand führt, der strenge Sitz des ewigen

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 066. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/405&oldid=- (Version vom 17.7.2016)