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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Jubel urtheilen dürfte, mit welchem der HErr in Jerusalem einzog; so würde man freilich sagen dürfen: Jerusalem hat seine Gnadenzeit benützt. Aber sieh einmal auf den HErrn, welcher unter der jubelnden Menge einherreitet. Ueber den Rauchwolken des Lobes und der Begeisterung gewahrest du ein ernsthaftes Angesicht des HErrn. Er hat Selbst gelehrt, daß man mit den Fröhlichen sich freuen soll; aber so groß die Freude um Ihn her, so empfänglich Sein Herz für die Freuden Seiner Brüder ist: dies Mal freut Er sich nicht, mitten unter der fröhlichen Schaar weint Er bittre Zähren, mitten unter ihren Lobgesängen ertönt Sein trauriges Klagen. Sein untrügliches Auge erkennt die Aufnahme nicht für recht. − Ferner! Uebersieh einmal mit prüfendem Auge die Menge, welche den HErrn zu Seinem Tempel geleitet! Streuen sie alle Palmen und Kleider auf Seinen Weg? Singen sie alle Hosianna, jubeln sie alle, sind sie alle begeistert? Prüfe nur genau. Siehst du nicht jene Wohlgekleideten mit den ernsten, ehrbaren Gesichtern, die hie und da an der Straße lautlos stehen und mit Kopfschütteln und sichtbarem Aerger den lobsingenden Zug mit seinem armen König vorüberziehen laßen? Siehst du nicht in des Tempels Vorhöfen die Pharisäer und Schriftgelehrten, welche vom Hosianna der Kinder die heiligen Mauern des Tempels entheiligt glauben? Wie sie zur Ruhe winken! Wie sie als kluge Leute zu dem HErrn Selber treten und von Ihm, der über die Kinder Macht hat, Beschwichtigung des Geschreis verlangen! Die nehmen Ihn nicht auf, die erkennen Sein Kommen für keine Heimsuchung der Gnade! An denen siehst du, wie wahr des HErrn Wort ist: „Sie werden keinen Stein auf dem andern laßen, darum, daß du nicht erkannt hast die Zeit, darinnen du heimgesucht bist.“ Luc. 19, 44. − Und die schreiende Menge selber, erkennt wohl sie die gnädige Heimsuchung Gottes? Fern sei es, sie so ins Allgemeine hin der Heuchelei zu zeihen. Ihr Jubel, ihr Hosianna ist keine Heuchelei! Der Mensch hat seine Stunden, wo er dem Geiste des HErrn sich williger hingibt, als sonst. Solche Stunden werden nicht vom nachkommenden Alltagsleben der Sünden Lügen gestraft, sondern sie sind selbst ein Zeugnis wider dieses. So wenig Bileam ein Heuchler war, da er, vom Geiste des HErrn ergriffen, über Israels Hütten dahin rief: „Meine Seele müße sterben des Todes der Gerechten und mein Ende werde wie dieser Ende!“ (4. Mos. 23, 10.), eben so wenig ist die Freude und das Hosianna des Palmensonntags eine Heuchelei. Im Gegentheil, es hat sie heimgesucht, was Christus den Seinen bringt, Licht und Leben; aber sie tragens in irdischen Gefäßen, in denen der geistige Schatz nicht bleibt, wenn ihn die Treue nicht hält. Sie verlieren wieder, wie es zu geschehen pflegt, aus dem Auge, was sie geschaut, aus dem Herzen, was sie gefühlt haben, eben weil sie nicht erkannten die Zeit, wo sie heimgesucht waren. Wie sich manchmal ein Vogel auf deinen Baum setzt, wunderbare Töne dir zu Ohren bringt, schnell wieder entfliegt, und, so sehr dein Herz bewegt war, doch bald vergeßen wird; so ist alle Rührung des Geistes, wenn nicht ihre Ursache erkannt und im Glauben festgehalten wird. Die von Freuden leben, nach Freuden schmachten, verlieren sie immer wieder: aber die gerne bei dem HErrn verweilen, Sein Wort gerne hören und lernen, haben daran eine nicht versiegende Quelle, die auch in Traurigkeit heimlich die Seele stärkt und erquickt. Das Volk erkannte den HErrn, Seines Kommens, Seiner Werke Sinn nicht; − sie freuten sich eine Weile in Seinem Lichte, wie sie sich auch im Lichte Johannis gefreut hatten, − aber sie erkannten in Ihm nicht den HErrn, den ihre Väter begehrt, und den Engel des Bundes (Mal. 3, 1.), der einen ewigen Frieden bringen sollte. Sie sahen in Ihm nicht, was Er war, sie erkannten Ihn nicht. Daher das „Kreuzige!“ nach dem Hosianna! Daher der leichte, schnelle Wechsel zwischen der Begeisterung des Himmels am Palmensonntag und der Begeisterung der Hölle am Charfreitag. Daher die Thränen JEsu am Palmensonntag und Seine Klage über Jerusalem: „Du hast nicht erkannt die Zeit, darinnen Du heimgesucht bist!“

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 Ach, daß wir die Heimsuchung des HErrn beßer erkennen möchten! − Drei sind, die da zeugen auf Erden, der Geist, das Waßer und das Blut. Der Geist zeugt durchs Predigtamt, der Geist setzt Hirten und Lehrer und lehrt sie vermahnen und bitten an Christi Statt. Der Geist Christi, Christus und der Vater begehren durchs Wort den Einlaß in unser Herz. Erkennet doch Gottes Heimsuchung, wenn Sein Wort aus dem Munde der Prediger an eure Herzen dringt! Ihn ehrt, Ihn verachtet ihr im Worte.

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 065. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/404&oldid=- (Version vom 17.7.2016)