Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres | |
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Namen des HErrn, ist ihnen offenbart. Der HErr hatte sie heimgesucht mit Gnaden. Ihr Hosianna, ihre Freude, das Licht JEsu, der von morgenwärts einherreitet, was ists anders, als eine Heimsuchung, der Gnaden?
Aber nicht so kurz ist die Zeit der Heimsuchung, daß sie mit dem Hosianna, mit Freude und Jubel der Menge begönne und schlöße. Bereits drei Jahre hat ER rastlos in Israel gewirkt mit mächtigen Worten und großen Thaten: Jahre der Heimsuchung sind am Palmensonntage bereits zurückgelegt. Und eine Woche der Heimsuchung beginnt, Einer Heimsuchung, deren Gnadenfülle nur das Herz JEsu Christi faßen kann, die sonst von keiner Kreatur in ihren Tiefen und Höhen und Weiten erkannt wird. Denn ER kommt, die Missethat Seines Volkes und der ganzen Welt zu versöhnen und mit Einem Opfer in Ewigkeit alle zu vollenden, die geheiligt werden sollen. Er kommt, der Gerechtigkeit durch Sein barmherziges, unschuldiges Leiden genug zu thun, und mit dem unnennbaren Wehe Seines Todes das Urtheil des jüngsten Gerichtes verstummen zu machen und in lauter Vergebung zu verwandeln. ER kommt, um sich ins Grab zu betten, die Macht und den Schauer der Verwesung zu vernichten, der Hölle Burg und Pforten zu zerbrechen und durch Seine Auferstehung Leben und unsterbliches Wesen ans Licht zu bringen. ER kommt, sich zu erniedrigen, auf daß ER, erhöhet zum Throne Seiner Ehren, ein Heiland aller Menschen würde und ihnen durch die Kraft Seines Geistes, Seines Wortes, Seiner Sacramente Lust und Kraft mittheilte, aufzufahren zu Seinen Höhen, zu schauen und zu theilen die Herrlichkeit und Seligkeit des Menschensohnes. − Siehe die Zeit der Heimsuchung in Gnaden, die am Palmensonntag bereits zugegen war, die auch jetzt noch nicht abgelaufen ist, sondern als die letzte, lange Gnadenstunde Gottes, wie zur Zeit Josuas die Sonne des Siegs, am Himmel verweilt, auf daß die Geduld des HErrn unsre Seligkeit werde. Noch wirkt JEsus Christus, noch sammelt ER, noch sind Seine Pforten nicht geschloßen, noch hat ER dem Vater das Reich nicht übergeben, noch tönet Seiner Knechte Ruf: „Kommet, es ist Alles bereit!“ Noch nöthigt man mit Bitten an Christi Statt: „Laßet euch versöhnen mit Gott!“ Noch ist die Braut des HErrn nicht völlig bereitet, Isaaks Elieser, JEsu Christi Diener, harren noch am Altare mit Himmelsbrot und Himmelstrank, dem, der größer als Ahasverus ist, seine Esther zu verklären. − Mit Einem Worte: wie in Jerusalem am Palmensonntag, so waltet jetzt noch über uns die Gnadenstunde!
2. Eine lange Gnadenstunde, aber unterbrochen für diejenigen, denen es also gebührte, durch ernste Stunden der Heimsuchung mit Gericht und Gerechtigkeit. Zur Zeit, da Christus in unsrem Evangelium redete, war die schreckliche Stunde des Gerichts über Israel noch nicht gekommen, sie war erst noch zukünftig. Wir aber kennen sie, als vergangen, − so weit die Länder ausgebreitet sind über die Waßer, redet man vom Falle Jerusalems und die Thränen und Klagelieder Jeremiä, über die erste Zerstörung hingeweint, sind, wie eine Quelle, bei der zweiten wieder hervorgekommen, um völlig − nicht mehr zu versiegen. Oder weint nicht Israel noch jetzt über die gefallene Stadt − und weint nicht die heilige Kirche an jedem zehnten Sonntag nach Trinitatis mit Israel? Kommen wir nicht überall in den Nachmittagsstunden dieses Sonntags zusammen, um die Geschichte vom Fall Jerusalems, wie eine schreckliche, tatsächliche Weißagung auf das Schicksal und Ende der widerspänstigen Menschheit zu vernehmen, und Jerusalem zu klagen wie einen Erstling unter vielen Brüdern, wie den Erstling des Zornes Gottes?!
Ja sie ist gefallen. Es ist geschehen, was der HErr geweißagt hat. Im Jahre 70 ist es geschehen. Die Römer haben eine „Wagenburg um Jerusalem und ihre Kinder geschlagen, sie belagert und an allen Orten geängstet.“ Sie haben einen Theil der Stadt nach dem andern erobert und die Juden über die Leichen ihrer Brüder hin in immer engere Räume eingeschloßen. Sie haben endlich am 10. August den Tempel angezündet, der unter dem Wehgeschrei der Juden, unter dem Siegsgeschrei der Römer in Flammen aufgieng. Sie haben unter den Juden gewürgt, bis sie müde wurden. Sie haben alles so der Erde gleich gemacht, „daß man hätte glauben sollen, es habe da nie eine bewohnte Stadt gestanden.“ Nur drei Thürme blieben auf Befehl des Feldherrn Titus stehen, um „als Denkmale den Nachkommen zu berichten, wie fest die Stadt war,“ die geschleift und vom Erdboden weggetilgt
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 63. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/402&oldid=- (Version vom 17.7.2016)