Seite:Wilhelm Löhe - Evangelien-Postille Aufl 3.pdf/40

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

an einen jeden nach Maßgabe seines Vermögens gestellt werden könnten, das wollte er wißen. Diese Schatzung, wie St. Lukas sagt, war die allererste. − Auch Judäa, das gesammte gelobte Land war dem Kaiser Augustus unterworfen; die Fürsten und Stämme des Landes mußten ihm gehorchen. Cyrenius wird genannt ein Landpfleger des Kaisers in Syrien, und seine amtliche Befugnis, die Schatzung vorzunehmen, erstreckte sich auch über das heilige Land, obwohl damals Herodes durch des Kaisers Gnade und mit seinem Willen dortselbst König war. Er vollzog den Schatzungsbefehl also, daß er eine jede jüdische Familie anweisen ließ, sich in ihrem alten Stammorte aufzeichnen und schätzen zu laßen; dem ganzen Geschäfte und der Ausführung desselben legte er die alte Eintheilung des Landes nach Geschlechtern und Stämmen zu Grunde. Damit that er nach römischem Brauch; denn die Römer ließen gerne und so weit es möglich war, jedes von ihnen überwundene und ihnen unterworfene Volk bei seinen herkömmlichen Einrichtungen und Ordnungen verbleiben. − Der allgemeine Schatzungsbefehl gelangte nun nothwendig auch an Joseph, den Zimmermann, den Mann der heiligen Jungfrau Maria, welcher zu Nazareth in Galiläa wohnte. Er war aus Davids Geschlecht, deshalb mußte er nach Bethlehem Juda wandern, um sich dort schätzen zu laßen. Ob es gebotene Sache war, daß die Frauen ihre Männer an den Ort der Schatzung begleiteten; ob es vielleicht die Art der Ehe, welche Joseph und Maria eingegangen hatten, erforderte, daß Maria am Schatzungsorte mit zugegen wäre? Wir wißen es nicht. Vielleicht war es nicht so. Vielleicht kannte die heilige Gottesmutter die Weißagung Micha 5. nicht minder als die Hohenpriester und Schriftgelehrten, welche Herodes nach Ankunft der Weisen fragte. Vielleicht war es ihr während der Zeit ihrer heiligen Mutterschaft, seit der Verkündigung des Engels klar geworden, daß sie zur Geburt des Heilandes der Welt nach Bethlehem Juda gehen müsse. Vielleicht war der Schatzungsbefehl nur der äußere Beruf zum innern, das äußere Zeichen, daß sie innerlich den Willen des Hochgelobten recht erkannt hatte. Vielleicht gieng sie mit dem hohen Bewußtsein nach Bethlehem, an den von Ewigkeit her auserwählten Ort ihrer Niederkunft, an den Ort der Weißagung oder Erfüllung zu kommen und auch mit diesem, ihrem Gang eine Erfüllerin unverbrüchlicher Gottesworte zu sein. Warum soll das nicht sein können? Warum grade das nicht, was unter allem vielleicht die schicklichste, geziemendste Auslegung ist? Jedoch, dem sei, wie ihm wolle; genug, sie geht nach Bethlehem, sie geht in der beschwerlichsten Zeit, am Ende ihrer Schwangerschaft, sie scheut Weg und Mühsal nicht, sie geht mit Joseph zur Schatzung. So lesen wir. Sie geht, ach wie geduldig − und da sie ankommt, sie, die alle hätten mit Freuden und Ehren empfangen sollen, siehe, da ist kein Raum für sie, sie muß die Herberge und die Stadt verlaßen, und eine Höhle, die zum Stalle diente, zum Aufenthalt erwählen. Es wimmelte in Bethlehem und in der Herberge daselbst von den Nachkommen bethlehemitischer Geschlechter; aber waren wol viele von Davids Stamm vorhanden − und haben es Nachkommen Davids über sich vermocht, eine Tochter Davids, die durch Nathan von dem großen König stammte, diese Tochter, in diesen Umständen, und einen Sohn Davids, der, wie Joseph, von Salomo stammte, aus der Herberge in die Höhle zu verweisen? Wol schwerlich! Kaum waren es Daviden, von denen die Herberge von Bethlehem wimmelte; es gab ja der Geschlechter, die von Bethlehem stammten, und deren Nachkommen nun zusammengeströmt sein konnten, außer dem Geschlechte Davids gar viele. Davids Geschlecht war klein geworden, und der Messias sollte nach der Weißagung ein Wurzelsprößling, ein Reis aus dürrem Erdreich sein. Von dem ohnehin kleinen Geschlechte waren vielleicht auch wenige zugegen, vielleicht waren alle schon geschätzt, bevor die fernen Pilgrime aus Galiläa ankamen. Vielleicht war es aber auch anders, vielleicht waren doch Daviden vorhanden, vielleicht ringe ich vergeblich darnach, sie zu entschuldigen, − vielleicht ließen Daviden die gebenedeite Tochter Davids hingehen − mit Wißen und Willen − hinaus aus der Stadt − in die Höhle − in den Stall. Genug, sie gieng; die Thiere waren auf den Fluren; der Ort war leer, stille, einsam, ein Heiligtum, Gottes Haus, eine Pforte des Himmels. Hier kam Mariens Stunde, hier gebar sie ihren ersten Sohn, wol ihren einzigen, jeden Falls den einzigen in seiner Art, „den Mann, den HErrn“, den Immanuel, den Helden, dem die Völker anhangen sollten. Den wickelte sie in Windeln und legte ihn in eine Krippe.

.
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 029. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/40&oldid=- (Version vom 22.8.2016)