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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

setzen. Schlimm genug, wenn man das Auge vor den Unterschieden, die sich so unverkennbar hervorthun, absichtlich schließt. Gar nichts zu reden von den natürlichen, von Gott, dem Geber alles Guten, stammenden Unterschieden rücksichtlich der Begabung, oder von der großen Verschiedenheit in Treue und Eifer, ist es offenbar, daß auch der Inhalt der Predigten nicht einer und derselbe ist, daß in der Hauptsache keine Einigkeit und daß es also gut und nöthig ist, die Augen aufzuthun und die Geister zu prüfen. − Ob aber auch einer sich der Wahrnehmung deßen entziehen und erst in Frage stellen wollte, was wir mit einem starken Nein beantwortet haben; so können wir einem solchen mit unserm Texte, also mit JEsu Worten, dienen, welche gleich heiligen Eiden ein Ende alles Haders machen. Unser Text verneint es auf das Bestimmteste, daß alle Prediger Gottes Wort predigen. Zwar redet er insonderheit von den Propheten und belehrt uns, daß nicht allen Propheten zu trauen sei, weil es falsche Propheten gebe. Allein das dient nur zu desto kräftigerer Verneinung unserer eigentlichen Frage. Denn wenn zwischen den Propheten, die an der Spitze aller Prediger stehen, ein Unterschied ist, und sie nicht alle Gottes Wort predigen, so wird es bei den Predigern, die an Art und Begabung die geringeren sind, vermuthlich nicht beßer stehen. Vernehmet also, meine Brüder, was ich aus unserm Texte zum Beweise des Satzes vorzubringen habe, daß nicht alle Prediger Gottes Wort predigen und rechte Prediger sind.

 Niemand ist liebevoller, als Christus; Ihm geben alle Parteien den Preis, Ihm weicht der Hochmüthigste gerne. Wenn Er die schärfsten Worte spricht, wird sich dennoch niemand erfrechen, Ihn schroff oder lieblos zu nennen; man wird, wenn die Liebe in Seinen Worten nicht gleich zu Tage liegt, sich die Mühe nicht verdrießen laßen, zu forschen und zu bedenken, wo sie sei. Er kann ja die Liebe nicht verletzen, da Er selbst die Liebe ist und solche Beweise von Liebe gegeben hat, über deren Giltigkeit und Lauterkeit im Himmel, auf Erden und in der Hölle kein Streit mehr ist. Darin sind Gott und alle, auch Seine verfluchten Creaturen einig, daß Christus Liebe ist, lautere Liebe. Wohlan, dieser Christus, welcher die Liebe ist, nennt etliche Prediger in unserm Texte Schafe, und die andern nennt Er Wölfe. Mit den beiden Ausdrücken hat Er doch ohne Zweifel einen Unterschied setzen wollen! Oder sind Schafe und Wölfe einerlei? Wer hat zwischen den beiden je eine Gemeinschaft gesehen? Welches stärkere Bild hätte der HErr wählen können, um einen Unterschied, einen Gegensatz, einen Widerstreit damit zu bezeichnen? Ich denke, so gewis es ist, daß im Texte die Schafe fromme Prediger bezeichnen, so gewis ist es auch, daß die Wölfe gottlose Prediger bezeichnen, und damit allein schon wäre Unterschieds genug gemacht.

 Es kann aber auch niemand sagen: Ja, Christus scheidet, und Ihm ziemt es wohl, zu scheiden, weil Er ein gerechter und untrüglicher Richter ist; aber wir sollen nicht unterscheiden. Diese Einwendung stammt aus arbeitsscheuer Trägheit und aus jener selbstsüchtigen Feigheit, die lieber Aug und Ohr verschließt, ehe sie es mit jemand verdirbt. Predigen alle Gottes Wort, oder ziemt sich wenigstens für uns nicht, einen Unterschied zu machen; so kann man mit allen Predigern und mit den Zuhörern und Anhängern aller im Frieden bleiben. Das ist richtig, und eben so richtig ist es, daß solchen faulen, feiggesinnten Seelen ein Evangelium, wie das heutige, sehr unbequem sein muß, denn es widerstrebt der trägen Ruhe allzusehr. Sehen wir nur hinein, liebe Brüder! Was ist das ganze Evangelium, wenn es nicht eine Warnung vor den falschen Predigern ist? Wenn es aber eine Warnung vor ihnen ist, ists dann nicht auch die bestimmteste Aufforderung, aufzusehen, zu prüfen, zu vergleichen, zu unterscheiden, also die trägen Faulbetten der Gleichgiltigkeit zu verlaßen, einem Theil der Prediger Lebewohl zu sagen und Streit anzukündigen? − Das willst du nicht? Du magst dich nicht verfeinden? So will ich dir ein zwingenderes Wort sagen. Christus nennt falsche Lehrer „reißende“ Wölfe. Wenn sie reißend sind, muß eine Gefahr da sein, versteht sich eine Seelengefahr, eine Gefahr, die leicht zu ewigem Wehe ausschlagen kann. Willst du die Mühe des Prüfens und Unterscheidens noch immer nicht auf dich nehmen? Ist es dir noch wohl in deiner selbsterwählten Blindheit? Du hast doch auch eine Seele zu verlieren, und dein Weib und deine Kinder, für welche du einstehen mußt, desgleichen. So laß dir doch das Wort in den Ohren klingen, das ich dir zurufe: „Reißende Wölfe, gefährliche, seelengefährliche Raubthiere nennt Christus die falschen Lehrer.“ Doch

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 052. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/391&oldid=- (Version vom 17.7.2016)