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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

muß Er Seine verlorenen Menschen lieben, daß Er solche Gleichnisse auf sie macht, auf sie ausdeuten läßt und gemäß diesen Gleichnissen handelt. Wenn von den Israeliten in der Wüste das Gleichnis geschrieben steht, Gott habe sie auf Adlersfittichen getragen: so ist es majestätisch zu lesen, − aber ich ziehe es doch vor, wenn mein Heiland von mir sagt, Er wolle mich auf Seinen Achseln tragen bis zu Seiner sichern Heerde, bis zu Seinen Schafen, die nicht mehr verloren werden. Indes, ich merke, daß meine Freude an dem Benehmen unsers HErrn gegen wiedergefundene arme Sünder mir den Blick für Seine Freude getrübt hat, daß mehr die Erfahrung, als das Anschauen Seiner freudenvollen Liebe mich bewegt! Drum will ich mit Ernst einlenken und die unbegreifliche Freude unsers HErrn fester ins Auge faßen. Im Gleichnis heißt es von dem Hirten: „Wenn er heimkommt, ruft er seinen Freunden und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freuet euch mit mir, denn ich habe mein Schaf funden, das verloren war.“ Und ganz ähnlich heißt es von dem Weibe, das ihren Groschen wieder fand: „Wenn sie ihn gefunden hat, ruft sie ihren Freundinnen und Nachbarinnen und spricht: Freuet euch mit mir, denn ich habe meinen Groschen funden, den ich verloren hatte.“ Und die Auslegung auf unsern HErrn brauchen wir nicht mühevoll zu suchen, sie ist vom HErrn selbst gegeben, zweimal in den kurzen Worten des einen heutigen Evangeliums. „Ich sage euch, spricht der HErr, also wird auch Freude sein im Himmel über einen Sünder der Buße thut, vor neun und neunzig Gerechten, die der Buße nicht bedürfen.“ „Es wird Freude sein vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße thut.“ Es freut sich also der HErr, unser Hirte, wenn Er uns findet, und Seine Heimat, der Himmel, und deßen Bewohner, die Engel, werden zu Seiner Freuden Theilnahme gerufen, es wird ihnen die Kunde von dem Wiederfinden jedes verlorenen Menschen mitgetheilt und die heiligen Engel feiern dann die Stunde des neuen Lebens und der Wiedergeburt eines armen Menschenkindes mit ihrem allerhöchsten König in Jubelklang. − Wenn mir einer sagen würde, der Himmel da droben drehe sich um mich und mir zu Gefallen schienen Sonne, Mond und Sterne, mir sei die Pracht der Erde vom Frühling bis zum Winter vermeint; so würde ich ihn wie einen Menschen ansehen, der mir unbändigen Hochmuth zuschriebe und sich entschloßen hätte, mein Laster zu meinem Unheil zu nähren. Denn was ist der Mensch, der Staub, gegen Himmel und Erde! Und nun höre ich Größeres. Wenn mich mein Heiland findet, freut Er sich mein, − Der freut sich mein, vor Dem sich Erd und Himmel neigt: und die heiligen Engel, die herrlicher sind als Sonnen, kennen mich alsdann, mein Heiland und mein Gott thut ihnen meine Bekehrung kund, und ich Staub, ich Sünder werde eine Ursache, daß sich um den Thron des Hirten und Königs aller Welten ein Freudenpsalm erhebt. Ich, der ich niemand hinieden Freude machen kann, ich Thränensohn, ich Schmerzenskind, ich kann den Himmeln Freude machen, wenn ich mich retten laße! − Wo sind die Engel, meine Brüder? Auf Zion, im himmlischen Jerusalem ist ihr Aus- und Eingang, dort sammeln sie sich ab und zu bei dem Mittler des Neuen Testamentes JEsu und zu Gott, dem Richter über alle. Und wohnen sie allein auf Zion, im himmlischen Jerusalem? Mit Nichten! Dort sind auch die Geister der vollkommenen Gerechten, die Seelen der vollendeten Christen, das sagt mir Ebr. 12. Es ist dort eine Gemeinde, bestehend aus Engeln und erlösten Menschenseelen. Wenn nun die Engel sich über einen Sünder freuen, der gefunden ward und Buße that, − wenn ihnen eine Kunde jedes heimkehrenden Verlorenen zu Theil wird, werden die Seelen der Abgeschiedenen nicht erfahren, warum ihre Nachbarn, die heiligen Engel, sich freuen? Werden sie sich nicht auch mitfreuen können und dürfen, sie, die eines Sünders Errettung näher als Engel angeht, sie, die selbst Sünder waren und gerettet und eine Freude der Engel wurden? Tagtäglich findet der gute Hirte Schafe, tagtäglich freuen sich darüber die Himmel, tagtäglich tönt der Lobgesang dem Lamme, das uns erkauft hat aus allen Geschlechtern und Sprachen und Zungen, − und am immerwährenden Freudenfeste in Zion nähmen die abgeschiedenen, heiligen Seelen nicht Theil, die auch in Jerusalem wohnen? Das sei ferne! Das sei ferne von dem, dem unsre Todten leben, der ein Gott ist der Lebendigen und nicht der Todten! Ich nehme es für gewis dahin, daß ihr, theure Freunde, euern Vätern noch im Himmel Freude machen könnet, wenn ihr euch bekehret! Es ist Freude im Himmel über einen Sünder der Buße thut − das wißen wir. Unsere Väter, unsere Mütter, die vielleicht um uns sorgend aus der Zeit giengen, die jenseits mit dem ewigen Hohenpriester ohne Unterlaß für uns beten, erfahren es, wenn

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 028. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/367&oldid=- (Version vom 1.8.2018)