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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

gebe, sie vollbereite, stärke, kräftige, gründe, sie heilige, auferwecke und kröne. Mütter pflegen oftmals auszusprechen, daß ihnen unter ihren Kindern keines lieber sei, als dasjenige, welches gerade leide oder in einer Gefahr sei. Ich möchte diese mütterliche Schwachheit nicht neben die Liebe JEsu zu den Verlorenen stellen, denn Er ist vollkommen und liebt alle, die Er erlöset, erworben und gewonnen hat, mit himmlischer, gleicher Liebe, wenn Er schon einem jeden diejenige Liebeserweisung zuwendet, die er gerade bedarf. − So sehe ich denn in unsern Gleichnissen ein Bild der Menschheit, wie sie getrennt ist in Gewonnene und noch Verlorene, ein Bild der Kirche, die da ist eine Sammlung der Gewonnenen und eine Rettungsanstalt, ein Sammelplatz der Verlorenen, eine Beschreibung der mancherlei Liebe Christi, die, unabhängig von bisheriger Annahme oder Abweisung Seiner errettenden Hilfe, die reuigen und die stolzen, irrenden Sünder umfaßt, jene hält und heiligt, diese sucht und fröhlich findet. Ich sehe die vollkommene Liebe meines Erlösers zu allen Menschen, weil sie alle Sein sind nicht bloß durch die Schöpfung, sondern auch durch den Kampf am Kreuze, − und diese Erkenntnis macht meine Seele froh und begierig, auch so zu lieben, wie mein HErr geliebt hat.

 2. Was insonderheit die Liebe zu den Verlorenen anlangt, so verwundere ich mich, daß unser HErr nach beiden Gleichnissen Sich ein Suchen zuschreibt. Da Er sucht, um selig zu machen, so liegt dem Suchen ein Sehnen und Verlangen, ein herzliches Wohlwollen und Lieben zu Grunde, − und obwohl das nach dem, was wir bereits vernommen haben, gar nicht anders sein kann; so wird es doch eine Ursache hier auf Erden zunehmender, dort sich vollendender Verwunderung sein. Liebe, Verlangen und Begehren erstreckt sich unter den Menschenkindern insgemein auf das Liebenswürdige, Heilige, Wahre, Schöne, − und wenn ein Mensch sich liebend zu Unwürdigem, Häßlichem, Bösem, Falschem wendet, so sorgt man nicht bloß seinetwegen, sondern man fürchtet, es möchte sein eigenes Gemüth unwürdig, häßlich, böse, falsch geworden sein. Eine solche Scheidung zwischen dem Unwürdigen und der Person, in und an der es haftet, daß man jenes haße, diese aber liebe, liebend diese von jenem zu befreien trachte, ist nicht natürlich, sondern so übernatürlich, daß schon der Gedanke davon in keinem menschlichen Herzen entsprungen ist und die Kraft dazu nimmermehr von der Erde stammen kann. Der wunderbare, heilige Widerspruch zwischen Liebe zur Person und Haß ihrer schlimmen Eigenschaften, der sich am Ende in einer siegreichen Verklärung der geliebten Person und in einer Erlösung und Reinigung derselben von allem Bösen auflöst, ist erst mit dem guten Hirten der verlorenen Schafe in die Welt gekommen und ein herrliches Erbe der Braut des HErrn, welcher Er an all Seiner Güte und Treue und Vollkommenheit Theil gibt. Wir wollen, geliebte Brüder, den HErrn, unsern Hirten, ewig für Seine heilige und heiligende Liebe zu dem Verlorenen loben! − Doch habe ich über diese suchende Liebe unsers HErrn noch etwas zu bemerken, was mir nicht minder wunderbar vorkommt. Der HErr liebt die verlorenen Schafe − und ist allwißend, allgegenwärtig, allmächtig; er könnte also vermöge Seiner göttlichen Kraft die verlorenen Schafe plötzlich erhaschen und umwandeln. Aber das will Er nicht und thut Er nicht. Wie Er allewege die Menschen nicht behandelt, als wären sie Holz oder Stein in Seiner mächtigen, bildenden Hand; wie Er immer dem Menschen fragend, anbietend, überzeugend naht und keine Seiner Segnungen in sein Herz wider seinen Willen oder gar trotz seines offenbaren Widerstrebens legt; so auch hier − Er hascht nicht plötzlich, ändert die Schafe nicht gewaltsam, sondern Seine Liebe zu den Verlorenen gibt sich in einem wunderbaren, angelegentlichen Suchen kund, in einem treuen freundlichen Nachgehen, immer erneutem Annahen, in überzeugenden Reden, in herzlichem Zuruf, in dringender Warnung, in kräftiger Ermunterung. Ein plötzliches Haschen und Umändern schiene wunderbarer, aber das heilige Suchen ist wunderbarer, und in der Welt wüßte ich für die göttliche Liebe zu den verlorenen Sündern keinen herrlicheren, überschwänglicheren Ausdruck als den des Suchens.

 3. Bisher, geliebte Brüder, haben wir aus dem Gleichnis die Darstellung der Sünderliebe genommen; nun kommen wir aber in der Ordnung der Betrachtung zu einem Punkte, in welchem die Sünderliebe JEsu das Gleichnis weit hinter sich läßt. Denn ein Hirte, der ein verlorenes Schaf sucht, muß nicht mit dem Herzen, wohl aber mit der persönlichen Gegenwart die versammelte Heerde verlaßen; ein Weib, welches einen verlorenen Groschen sucht, wird auch kaum, während sie sucht, die neun unverlorenen Groschen in

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 025. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/364&oldid=- (Version vom 1.8.2018)