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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

bis ans Ende vergönnt sein werde. Wenn wir von einer Ordnung des Heils reden und innerhalb ihrer von gewissen Stufen; so ist nicht die Meinung, daß eine Stufe nach der andern ganz in derselben Weise zurückgelegt werden müße, wie bei einer natürlichen, aufwärts führenden Treppe, wo man die nächste Stufe füglich nicht eher erreichen soll, als bis man die vorige erstiegen und sie damit überwunden hat. Die Stufen der Heilsordnung sind zwar allerdings von der Art, daß man die zweite oder dritte nicht erreicht, ehe man die erste unter den Füßen gehabt hat; aber man würde das Gleichnis von einem Stufengang doch zu weit treiben, wenn man die Behauptung aufstellen wollte, man werde mit einer jeden Stufe vollständig fertig und überwinde sie ganz, ehe man die nächste beschreite. Man wird erst berufen und dann erleuchtet und dann gerechtfertigt und dann geheiligt im rechten einigen Glauben; aber die Berufung ist nicht zu Ende, wenn man anfängt, erleuchtet zu werden, die Erleuchtung hört nicht mit der Rechtfertigung auf, − sondern im Gegentheil: Berufung und Erleuchtung gehen auch im Zustande der Heiligung fort und selbst der Heiligste auf Erden vernimmt die Berufung alle Tage wieder. So lange noch „Stücken Finsternis“ im Menschen sind, hat er noch einen Fuß in der Welt, welchen vorwärts zu setzen er berufen wird. So geht also die Berufung nicht bloß immer zu, indem sie sich immer an andere Menschen wendet; sondern sie ist ein immer schallendes Wort auch an dieselben Personen, welche sie einmal vernommen haben. Je heiliger einer wird, desto lauter und dringender ergeht sie an ihn, und je mehr ihr das Werk gelingt, desto unabläßiger läßt sie sich hören, ruft, führt freundlich von dem, was im Menschen noch Welt ist, hinweg und nöthigt mit angelegentlichster Liebe zum Abendmahle des HErrn und von Genuß desselben zu Genuß bis zum Vollgenuße hinzu. Wenn aber das Leben zu seiner Grenze gekommen und der letzte Hauch verweht ist, wenn es stille wird in der Brust des Sterbenden; dann schweigt auch sie, dann wird auch sie stille, und in der Ewigkeit gibts keine Berufung mehr. Hier ist die Zeit der Berufung − hier ist das Abendmahl, zu welchem sich alle Berufenen versammeln sollen; wer hier des göttlichen Mahles nicht genoßen hat, kommt auch nicht zum ewigen Abendmahle, in Abrahams Schooß, in Lazari Gesellschaft. Darum ist die Lebenszeit eine so ernste, folgenschwere Zeit und die Berufung eine so hochwichtige Sache, und grauen- und schaudervoll ist der gesetzte Fall, daß wir vielleicht die Berufung, wie der reiche Mann, versäumen und unser ewiges Heil verträumen möchten. Es werden die Geladenen verworfen, welche den Ruf verachten; ein unwiderrufliches Gotteswort verweigert den Geladenen, die nicht hörten, für immer den Theil am ewigen Abendmahle. Wie viel mehr werden wir, die wir gerufen, geführt, genöthigt sind und noch immer werden, Ausschließung von den ewigen Freuden zu gewarten haben, wenn wir Gottes treuen Zuruf nichts achten und seine heilsame Gnade mit Füßen treten! Die Genöthigten, zu denen Gott den ganzen Tag liebende Arme und rettende Hände ausbreitet, sind gewis nicht minder schuldig, als die Geladenen, wenn sie zum Mahle hier, zum Mahle dort nicht kommen, wenn sie verloren gehen! Darum prüfe sich ein jeder, jedermann schlage an seine Brust und eilends stehe jeder auf vom Schlaf der Sünden und folge dem himmlischen Rufe: Ein warnender Aufruf geschehe insonderheit an die Anfänger im Haushalt und an die Neuvermählten, die noch nicht über Hab und Gut und über Frauenliebe sich erheben können, die Gefahr laufen, um Ackers und Viehes oder auch um des Weibes willen die edle Seele zu verabsäumen und das Abendmahl hier und dort zu verlieren! Eine Warnung ergehe auch an die alten, geübten Haushälter, die den Haushalt wohl verstehen, und eben deshalb in seinen Feßeln freiwillig gehen und durch ihr Geschick und ihre Gabe angehalten werden, das ewige Heil zu bedenken! Eine Warnung endlich ergehe auch an alle Arbeiter im heißen Sommer: der glühende Sonnenstrahl und die dringende Arbeit helfen zusammen, die Seelen zu benebeln, das Ohr für den himmlischen Ruf zu betäuben, das Auge zu blenden, daß man die Straße nicht recht erkennt, die man wandelt! Wann mehr als im heißen Sommer drückt die irdische Hütte den zerstreuten Sinn! − Der HErr unseres Berufes gedenke unser in Seinem Heiligtum und verleihe uns allen, daß wir Seinen Ruf vernehmen und Ihm folgen mögen. Seinem Rufe nach laße Er uns zum sichern Frieden des ewigen Lebens gelangen! Amen.




Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 022. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/361&oldid=- (Version vom 1.8.2018)