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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

in der Natur so viele unbegriffene und unbegreifliche Dinge, in deren Genuß kein Mensch sich durch den Mangel an Einsicht in ihren Anfang und ihr Ende irre machen läßt. Was sollte man sich also eine Unwißenheit derselben Art am Genuß und in der Freude der Wiedergeburt hindern laßen? Wenn man sie nur haben kann, so mag es mit der Art und Weise, mit dem Wie ihrer Entstehung immerhin sein, wie Gott es will. Die Wiedergeburt bringt uns ein Leben, das himmlisch und zugleich ewig ist, das nicht wieder aufhört, wie etwa der Wind sich legt und aufhört, wenn er geblasen hat. Dieß Leben gebe uns Gott, und nichts verkümmere uns dann den seligen Besitz.

 Bei alle dem dürfen wir uns nicht verhehlen, daß es manchem Menschen eine harte Aufgabe ist, das Unbegreifliche anzunehmen. Der Hochmuth, welcher nie ersterben will, sondern immer aufs Neue sich regt, bis der Tod kommt, läßt sich schwer zufriedenstellen, wenn er einmal darauf ausgeht, etwas zu begreifen und zu faßen. Alles, so Göttliches, wie Menschliches, soll sich dem Blicke seines Geistes in gleicher Weise und in gleichem Maße eröffnen und baar legen. Daher läßt es der HErr in unserem Evangelium nicht bei Seinen Belehrungen, sondern er schilt Nikodemi und unsern Unglauben und tritt uns (V. 11–13) mit der ganzen Kraft Seines vertrauenerweckenden Ansehens entgegen. Nicht wie ein anderer Mensch rede Er von der Wiedergeburt; Er rede als Besitzer der himmlischen Weisheit, als Mitwißer göttlicher Geheimnisse, als selbst vom Himmel gekommen, als noch im Himmel wohnend, wenn schon auch offenbar und sichtbar auf Erden verweilend, als der, welcher zum himmlischen Reiche den Weg wohl wißen müße, weil Er ihn selbst gekommen, weil Er des Himmels König sei. So rede Er vom Eingang ins Reich, und wenn Er wolle, sei es Ihm ein Kleines, auch noch ganz andere Dinge zu enthüllen, die nicht am Eingang des Reiches Gottes stehen, sondern die höchste Herrlichkeit der Himmel selbst betreffen. Ihm müße man daher Glauben schenken. Wenn man Ihm schon nicht glaube, so lange Er von dem Anfang und Eingang des Reiches Gottes rede, wie viel weniger man Ihm alsdann im Fortgang Seiner Unterweisungen, bei Seinen Offenbarungen himmlischer Dinge glauben werde!

 Wie dem Nikodemus zu Muthe gewesen sein mag, als ihn diese Fluth von Zurechtweisung überwallte, als er mit jedem strafenden Worte, das er vernahm, neue Blicke in die göttliche Wahrheit und in die Ehre und Majestät Christi, des Königs der Wahrheit, that; was er gefühlt haben mag, als die ihm unbegreiflichen Erklärungen des HErrn von der Wiedergeburt nur wie geringe Anfänge nachfolgenden Offenbarungen himmlischer, über die Wiedergeburt der Menschen weit erhabener Geheimnisse gegenübergestellt wurden: das können wir uns vielleicht gar nicht einmal recht denken. Jeden Falls aber kamen ihm schon damals ganz andere Gedanken von Christo und Seiner Bestimmung und Seinem Reiche, als er erwartet hatte, und es wurde damals der Grund jenes Glaubens und jener Liebe gelegt, welche dem HErrn selbst am Tage Seines Todes, in der Stunde Seines Todes und bis in Sein Grab hinein Stand hielten.

 Hier, meine Freunde, möchte ich, wenn ich meiner Neigung folgen sollte, die Erklärung dieses Evangeliums beschließen und mich zum Schluße wenden. Aber ich strafe mich selbst um meiner Neigung willen, da ich, ihr folgend, zwei Verse meines Textes liegen laßen müßte, welche, scheinbar mit den vorausgehenden lose verbunden, im tiefsten Innern mit ihnen zusammenhangen. Die beiden Verse 14 und 15 deuten auf den Zusammenhang der Versöhnung und der Wiedergeburt. Unter keinem Bilde konnte wohl dieser Zusammenhang vollkommener enthüllt und dargelegt werden, als unter dem jener Schlange, die Mose in der Wüste von Erz machte und am Pfahle aufhängte, die durch des HErrn Segen die Kraft hatte, alle von den feurigen Schlangen gebißenen Israeliten gesund zu machen, wenn sie nur mit Glauben und Vertrauen auf die göttliche Verheißung angeschaut wurde. Die am Pfahle hangende Schlange weißagte auf Den, der auch am Pfahle und am Holze hieng, ganz zur Sünde und zu einem Fluche gemacht wurde um unsertwillen. Der Fingerzeig auf die Schlange erinnert an alle die segensreiche Arbeit, welche Christus am Kreuz in unserm Namen erduldete und vollbrachte, wie ihm unser Verdienst der Sünden zugerechnet wurde und Er unsere Strafen trug. Indes redet das Schlangenbild am Pfahle doch weniger von dem stellvertretenden Leiden, als von der Kraft, welche die Betrachtung desselben auf verlorene, verdammte Sünder ausübt. Der ganze Sinn des Bildes liegt in den Worten des Propheten: „Durch Seine Wunden sind wir geheilet.“ Gleichwie den leiblich Kranken in

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 007. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/346&oldid=- (Version vom 1.8.2018)