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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

und Werdens stellt; so wird auch mit dem Namen Wiedergeburt nicht die höchste menschliche Vollendung bezeichnet, die im Reiche Gottes möglich ist, sondern nur der Eingang und Anfang, von welchem aus der Weg zum Ziele der Vollendung offen steht. Die Wiedergeburt ist ein zarter Keim, der Blüte und Frucht weißagt, − ein Funke, der zur Flamme werden, ein Quell, der zum Strome heranwachsen kann, − ein neues, göttliches Leben, welches der allmächtige und allweise Gott den Gesetzen eines stätigen, von innen nach außen strebenden Wachstums unterworfen hat. − Wahrlich, ein Ausdruck, der seines Meisters werth ist, der aber auch Gott und Seine Engel zur Wache um jede junge Wiedergeburt herbeiruft. Denn was kann der Satan an einem so zarten Anfang verderben, wenn Gottes Augen nicht offen stehen und der Engel flammende Schwerter dem Bösewicht nicht wehren? Gott sei allen wiedergeborenen Gotteskindern gnädig und erhalte ihnen ihr himmlisches Leben, um so mehr, als wir ja hören, daß unsere alte Geburt, unser eigener Fleiß und Eifer keine Gnade bei Gott findet, sondern schlechthin alles, ja alles an der Wiedergeburt und an dem Wachstum derselben zur völligen Vollendung liegt.

 Für durchaus nöthig und unerläßlich erklärt der HErr die Wiedergeburt. Dadurch entsteht und rechtfertigt sich die unabweisbare Frage: „Wie soll sie geschehen, wie gelange ich zu ihr?“ Wenn Nikodemus V. 4 auf die erste Aeußerung des HErrn über die Wiedergeburt in die Worte ausbricht: „Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er auch wieder in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden?“ so erkennen wir daraus, wie neu ihm die Lehre Christi in diesem Stücke noch war, wie sehr sie ihn überraschte und befremdete, wie ganz verlegen und ungeschickt er sich fühlte, sie zu verstehen. Noch nahm er die Worte Christi zu buchstäblich; in den ersten Augenblicken der Ueberraschung fiel ihm nicht bei, daß sie einen Sinn haben könnten, der, wenn gleich über den Wortlaut weit hinausschreitend, ihm dennoch vollkommen entsprechen konnte, ihn nicht im mindesten Lügen strafen mußte. Wenn er aber auch den Sinn des HErrn auf der Stelle völlig erkannt hätte, die Frage: „Wie soll das geschehen? Wie gelange ich zur Wiedergeburt?“ wäre ihm dennoch geblieben; ja sie würde sich ihm, je mehr er den HErrn verstanden hätte, desto mehr aufgedrängt haben. Je gewisser es angenommen wird, daß die Wiedergeburt zum Eingang in das Reich Gottes unumgänglich nöthig ist, desto größer muß das Verlangen werden, zu erkennen, wie man sie erlange. Die Berechtigung dieser Frage gesteht auch der HErr selbst zu, indem Er sie beantwortet, indem Er nicht bloß die Behauptung von der Nothwendigkeit der Wiedergeburt wiederholt, sondern die Wiedergeburt selbst als eine Geburt aus Waßer und Geist bezeichnet.

 Aus Waßer und Geist geboren werden, ist das Gegentheil unserer Geburt vom Fleische. Unsre Mütter haben uns Fleisch vom Fleische geboren, und diese Geburt vom Fleische bezeichnet der HErr selbst als unverbeßerliches Fleisch, indem Er spricht: „Was vom Fleisch geboren ist, das ist Fleisch.“ Nun kommt vom Fleische durch die Geburt nicht bloß der Leib des Menschen, der, indem er Fleisch genannt wird, keinen Tadel erleidet, sondern der ganze Mensch mit Leib und Seele, und wenn also der HErr spricht: „Was vom Fleisch geboren ist, das ist Fleisch,“ so benennt Er nicht bloß den Leib, sondern auch die Seele des von seiner Mutter kommenden Menschen mit dem Namen Fleisch, und dann liegt allerdings für die arme Menschenseele ein Tadel, über den sie, da er aus dem Munde der Wahrheit kommt, im Innersten erschrecken könnte. „Fleisch“ − die Seele sammt dem Leibe Fleisch! Sie war es doch nicht von Anfang; in der Schöpfung war sie doch der lebendige Odem des Allerhöchsten, durch welchen der ganze Mensch zur Ehre kam, eine „lebendige Seele“ zu heißen. Und nun Fleisch! Ist sie so heruntergekommen, hat sie sich so verändert und verwandelt? So ist eine Wiedergeburt desto nöthiger, desto wünschenswerther für sie selbst, die arme, im Fluche des Fleisches seufzende Seele! Und ein hohes Freudenevangelium ist es deshalb für sie und muß es auch sein, wenn der HErr von einer zweiten Geburt redet, welche Geist aus Geist ist und den Menschen wieder zu seinem uranfänglichen Stande zurückbringt. Und je größer einerseits die Noth unserer armen Seele, je reizender und lockender die von dem HErrn selber zugesagte Möglichkeit einer neuen Geburt ist, desto dringender erhebt sich die Frage, wie man zu dieser einzigen Hoffnung der Seele, zur Neugeburt kommen könne. Und zwar ist unser Wie nicht mehr die Frage grübelnder, fürwitzer

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 005. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/344&oldid=- (Version vom 1.8.2018)