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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Pharisäer Nikodemus. Beßer, genauer würde ich mich ausdrücken, wenn ich sagte: „Der HErr gibt eine Belehrung über den Eingang in das Reich Gottes.“ Denn in dem ganzen Gespräche kommt keine Belehrung über das Reich Gottes selbst vor; es wird durchweg vorausgesetzt, daß der „Meister in Israel“ Nikodemus das Nöthige wiße, um die Reden des HErrn verstehen zu können. Es war nicht zunächst die Absicht JEsu, die Begriffe des Pharisäers vom Reiche Gottes zu läutern; sondern es galt vielmehr, ihn von falschen Gedanken über die Theilnahme am Reiche zu heilen. Wenn wir nun versuchen werden, den Gedanken des HErrn in diesem Gespräche nachzugehen, so werden wir wohl den Ausdruck „Reich Gottes“ richtig verstehen, wenn wir ihn gleichbedeutend mit „Reich der Seligkeit“ nehmen, und die Worte des HErrn werden am kräftigsten und heilsamsten in unsere Seele dringen, wenn wir sie als lauter Antworten auf die eine Frage faßen: „Wie wird man selig?“

 Nikodemus mochte aus dem Gedankenkreiße des Pharisäismus mancherlei Vorstellungen mit zum HErrn gebracht haben, welche der König der Wahrheit nicht dulden durfte. Vielleicht war er, wie andere seiner Sekte, noch zu sehr in dem Wahn gefangen, als läge es, wenn man das Reich Gottes ererben wolle, hauptsächlich an eigener Bereitung und an einer gewissen Gestaltung des bereits vorhandenen Lebens. Denn dagegen und gegen jede Art von Werkerei streben die Reden Christi in unserem Texte mit aller Macht. Nicht von irgend einer Umgestaltung des alten Menschen, sondern geradezu von einer neuen Geburt wird der Eingang in das Reich Gottes abhängig gemacht. „Es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde, kann er das Reich Gottes nicht sehen, kann er nicht ins Reich Gottes kommen,“ so spricht der HErr und bekräftigt es mit seinem erhabenen „Wahrlich, wahrlich.“

 Von dem Ausdruck „neue Geburt“ oder Wiedergeburt müßen wir zuerst gestehen, daß er in der heiligen Schrift so oft nicht gebraucht wird, als in manchen Erbauungsschriften und Predigten des letzten Jahrhunderts. Die Schrift hat für denselben Gedanken auch andere, gleichfalls sehr beachtenswerthe Ausdrücke, durch welche der, von welchem wir jetzt reden, sein volles Licht und seine Begränzung erhält. Auch das muß zugestanden werden, daß der Ausdruck „neue Geburt, Wiedergeburt“ ein solcher ist, welcher das, was er andeutet, so wenig erschöpft, als andere Gleichnisreden des HErrn das, was sie meinen, in vollkommener Fülle darlegen. Das Gleichnis entlehnt ja seine Bilder von zeitlichen, irdischen Dingen, die keine vollkommenen Abriße der ewigen und geistlichen Dinge sein können. Die in einem Gleichnis dargestellte Wahrheit ragt über das Gleichnis selbst hinaus. So auch hier. Der HErr wollte dem Pharisäer bemerklich machen, daß nicht eine menschliche Bereitung und Neugestaltung des alten Adams, sondern eine gründliche Umänderung des Wesens selbst zum Eingang ins Reich Gottes nöthig sei, und dazu fand Er keinen geeigneteren Ausdruck, als den einer neuen Geburt, einer Wiedergeburt. Wer wollte nun leugnen, daß die wunderbare Umänderung, von welcher Christus spricht, die Gränzen des Ausdrucks „Neugeburt, Wiedergeburt“ weit überschreitet, daß der HErr, indem Er uns zur Wiedergeburt verhilft, ein über jede fleischliche Geburt weit erhabenes Werk an uns vollbringt? − Aber bei alle dem, wer kann, wer darf es wagen, diesen Ausdruck, der in keines Menschen Herz gekommen, zu verkleinern? Der HErr, der ihn erfand, hat ihm durch Anwendung auf das, was er bezeichnet, eine wunderbare Tiefe gegeben. − Gleichwie der Mensch in der Geburt seinen stillen Bergungsort verläßt, und in eine Welt hereintritt, die und deren Leben ihm völlig neu und ungewohnt ist; so verläßt auch der schon Geborene bei seiner Wiedergeburt auf unbegriffenen Wegen sein altes Dasein und tritt in ein völlig neues ein, das er nicht kannte. Und gleichwie das Kind, welches jetzt geboren wird, noch vieles an sich hat und eine Zeit lang behält, was an den vorigen Aufenthalt im Mutterleib erinnert, gleichwie es nicht auf einmal und wie mit einem Zauberschlage zur männlichen Vollkommenheit gelangt, sondern erst nach und nach sich an das neue Leben gewöhnt und für dasselbe erwächst und erzogen wird; so führt auch die Wiedergeburt nicht plötzlich aus dem Verderben des alten Adams in die Vollkommenheit des neuen hinein; es zeigen sich gar viele Stücke Finsternis auch an dem Wiedergeborenen, auch er ist nicht ein vollkommener Mann, sondern nur ein Kind, welches der Vollkommenheit fähig und zu ihr geboren ist. Gleichwie die leibliche Geburt den Menschen nicht an das Ende, sondern an den Anfang des zeitlichen Lebens

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 004. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/343&oldid=- (Version vom 1.8.2018)