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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Vorhang riß, da bebte die Erde vor Schrecken und Freude, da rißen die Felsen: die Natur, die sich vor den Sterbenden in finsterer Stille hingelagert hatte, erschütterte in ihren Gründen. Wie mag den Priestern im Tempel gewesen sein, als die Erde bebte und die Felsen rißen, wie der Vorhang − und sich der Zusammenhang mit dem Tode JEsu aufdrang? So nimmt also der Tempel − und die Erde und die unbeweglichen Felsen Theil an Dem, welchen sie, so weit es auf sie ankam, gemordet hatten. In dem Wiederschein solcher Vorgänge strahlte das Bild des als Gotteslästerer Verurtheilten mit grellem Lichte in ihre Seele − und es mußte in ihrem Herzen die Erkenntnis dämmern, daß sie, als sie Ihn zur Kreuzigung beförderten, eine ungeheure Schuld auf sich und das Land gebracht hätten.

 Als der HErr Sein Haupt im Tod neigte, siehe, da öffneten sich die Gräber der alten Heiligen und viele Leiber derselben standen auf. Feiernd harrten sie, der Erlösung ihrer Leiber froh, des Tages, der auf die Ruhetage ihres Erlösers folgte, auf seinen Auferstehungstag, − und als er kam, der herrlichste, freudenreichste Tag für alle Seelen der entschlafenen Gläubigen, siehe, da ließen sich die alten Heiligen hochberühmten Namens von vielen Einwohnern der heiligen Stadt schauen, um dann als Erstlinge der Auferstehung mit dem Erstling einzugehen in Seinen Freudenhimmel. Wie mag den Priestern, den Schriftgelehrten, den Aeltesten gewesen sein, als sie die Kunde von den offenen Gräbern bekamen und als sie sich bestätigte, und als sie endlich in eine Auferstehungsbotschaft und in die Berichte von Erscheinungen ausgieng. Es wirkte also der Tod dieses JEsus belebend auf die Todten: Tempel, Erdreich und das Reich der Todten stand in Beziehung zu diesem großen Todten, und Sein letzter Herzschlag wurde in allen Gebieten der göttlichen Herrschaft gespürt.

 Und wie ward den Leuten zu Muth, die draußen am Kreuze in der schaurigen Finsternis gestanden, die nun Seine letzten Reden und Sein Siegsgeschrei vernommen hatten: wie ward ihnen zu Muth, den Schreiern bei Gabbatha, als die Erde bebte, als die Felsen rißen? Wie ward ihnen zu Muth, als der Hauptmann, welcher am Kreuz die Wache hatte, den Eindruck offen heraussagte, welchen das Sterben des HErrn und die begleitenden Wunder auf ihn machten, als er vor allen Ohren seine Ueberzeugung kund gab: „Dieser ist ein Gerechter, Dieser ist Gottes Sohn gewesen!“ Kein Spott mehr, kein Geschrei, eine tiefe Stille herrschte: an die Brust schlug das Volk, kehrte um und gieng heim. Ohne Zweifel begann eine Stimme im Innern zu lehren und zu predigen, welche aus dem Munde des Hauptmanns Text und Thema nahm und ohne Ende rief: „Wahrlich, Dieser ist ein frommer Mensch, Dieser ist Gottes Sohn gewesen.“

 Und als nun die Haufen betroffen, still und in sich gekehrt heim giengen − nach Jerusalem hinein; als sie zu beichten anfiengen, wie der HErr gestorben, was für Wunder geschehen waren, was der Hauptmann gesagt hatte − und sich in stiller Verborgenheit, wie Wetterleuchten, alle diese Nachricht zu den Hohenpriestern verlief; da mag man sich gegenseitig verlegen angesehen haben, da wird die Angst gewesen sein, daß die Sache noch nicht aus sein könnte. Der Verstorbene war nicht gestorben, wie andre. Bei aller offenbaren Erschöpfung hatte Er einen unbegreiflichen Zufluß an Kraft: Sein Enden war ein mächtiges. Wenn Er nicht todt wäre! − Doch sieh, es war ja Freitag und der Sabbath nahe. Nach dem Gesetz sollte kein Gehängter am Sabbath hängen bleiben, darum waren sie ja zu Pilato gegangen und hatten verlangt, daß den Missethätern die Beine gebrochen würden. Das geschah in solchen Fällen öfter zur Beschleunigung des Todes: man zerschlug die Beine mit Keulen und führte zuletzt einen mächtigen Stoß auf die Brust: da konnte keiner mehr leben. Und das hatte denn Pilatus auch über die drei Gekreuzigten auf Verlangen der Juden verfügt. Wird doch nach dem Beinbrechen keine Möglichkeit der Wiederbelebung sein? So denken sie vielleicht − und etwa so lange, bis ein neuer Umstand, oder eine innere Regung sie in neue Sorge versetzt.

 Mögen sie sorgen − draußen auf Golgatha ereignen sich wieder Dinge von außerordentlicher Art. Es durfte dem HErrn kein Bein zerbrochen werden, denn er war das Passahlamm der Welt und dem Passahlamm durfte schon nach der vorbildlichen Anordnung des Gesetzes kein Bein zerbrochen werden. Also das hilft nichts, Pilati Anordnung und der Juden Verlangen darf an Christo nicht hinausgehen: Er muß mit unverletztem Gebein zu Seiner Grabesruhe kommen. Dagegen war eine alte Weißagung Zachariä, daß eine

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 320. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/331&oldid=- (Version vom 8.8.2016)