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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

„Weg, weg mit Diesem, kreuzige Ihn!“ − „Soll ich euern König kreuzigen?“ „Wir haben keinen König, sondern nur den Kaiser.“ Sie wollen den Kaiser nicht, aber auch keinen König, am wenigsten diesen, sondern nur sich selbst und ihre Erdenmacht und Hoheit, die sterbliche, die sterbende, die verdammte! − − Pilatus spricht den Spruch und schreibt fürs Kreuz, die Ursache des Todes: „JEsus von Nazareth, Judenkönig.“ Er schreibt nicht, wie die Priester korrigieren: „Er hat gesagt, daß Ers sei“, sondern er schreibt, daß Ers ist. Denn Er ists, − und das ist Seine Schuld vor dem entarteten Judengeschlecht, daß Ers ist und sies nicht widerlegen können und daß sie zu Ihm und Er zu ihnen nicht paßt. − Meinst du, Er werde Seinen Schwur nicht halten und kommen in Gottesmajestät, am Ende der Tage? Er wird ihn halten. Er wird Sich rechtfertigen und erweisen. Dann wird Er auch offenbar werden in Seiner Königswürde. Denn Gott hat Ihm den Stuhl Seines Vaters David gegeben und Seines Königreichs wird kein Ende sein. Um die zwei Dinge dreht sich die Weltgeschichte und die Welt und das Ende der Welt, das schreckliche; daß Er sei Gott und König. Die Juden haben mit dem Teufel ihr Nein geschrieen, daß Er drüber sterben mußte; aber Er sagt ja, daß die Himmel brechen und die Welt davon vergeht. Was Er bis zum letzten Hauch behauptet hat, das ist das große Thema Seiner Führungen und Offenbarungen bis ans Ende und bis in Ewigkeit hinein. Die Schrift: „JEsus von Nazareth, Judenkönig“ wird über den Trümmern der Welt und über Seinem ewigen Throne unangefochten stehen − und wenn die Verfluchten in den Pfuhl gehen, werden sie die Ueberzeugung mitnehmen, daß es so und nicht anders ist, daß JEsus ewig lebt und ist JEsus von Nazareth, der Juden König! Amen.




12. Menschlicher Unbestand.

 WIe hat man den Charakter Pilati zunehmen? Sowohl göttliche als menschliche Schriften erzählen grausame Handlungen von ihm: ist also Grausamkeit Pilati Charakter? Die heilige Schrift erzählt unverkennbare Beweise von Empfänglichkeit für die Wahrheit, wenn sie uns sein Verhalten gegen den HErrn JEsus darlegt: hat man ihn also für einen empfänglichen Heiden der beßeren Art, vielleicht für ein Beispiel und für einen Vertreter jener in der gebildeten Heidenwelt damals verbreiteten Sehnsucht nach Wahrheit zu nehmen? Oder liegt sein eigentlicher Charakter, namentlich wie ihn die heilige Schrift schildert, weder in dem einen noch in dem andern von beiden Zügen? Fast sollte man das letztere glauben. Er hatte ein unreines und ungerechtes Herz und Leben, ein böses und furchtsames Gewißen, das zur Linken mit seiner Grausamkeit, und zur Rechten mit seinem Verlangen nach dem beßeren, worin er auch für sich Rettung ahnte, zusammenhieng. Selbstsucht, Ungerechtigkeit, − daher böses Gewißen, − daher Unsicherheit, Veränderlichkeit und Charakterlosigkeit des öffentlichen Benehmens, auch seines Benehmens gegen JEsum: das scheint Pilati Charakter, und die Bezeichnung „ungerechter Richter“, welche den kirchlichen Schriftstellern geläufig ist, scheint das Schwarze seines Herzens am besten zu treffen. Es ist wahr, JEsu Hoheit und Sein Wort der Wahrheit zog ihn an; aber liebte er nicht seinen Vortheil und seine Ehre vor den Menschen so sehr, daß er wider alles beßere Wißen und Gewißen, wider die Mahnungen Christi und Seines Geistes und wider so vieles, was ihn auf den beßeren Weg hinüber wies, den Menschensohn verdammte? Es ist ein Triumph der Unschuld JEsu, daß Pilatus hart daran geht, JEsum zu verdammen. Aber es ist auch ein offenbarer und gewaltiger Sieg des Teufels, daß er den trotzenden Juden nachgibt. Sein Schwanken ist im Grunde kein Schwanken zwischen zwei Standpunkten, sondern er hat einen Standpunkt, nemlich den der eigennützigen Selbstsucht, und wenn er schwankt, so wird er schwankend auf seinem Standpunkte, Gottes Güte rührt ihn, daß er Miene macht, seinen bisherigen Ort zu verlaßen, − aber sein Schwanken hört auf, sein Herz entscheidet sich wieder für den alten Standpunkt, auf welchem er sich von da an nur desto fester gründet. Er bleibt sich treu in der Ungerechtigkeit, in der Neigung zum Beßeren ist er ungetreu; man

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 311. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/322&oldid=- (Version vom 8.8.2016)