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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Versuchungen aus dem Abgrund über den Jünger gekommen waren, daß wir in unsern Kämpfen nicht versucht sind wie er. Jene Nacht war vom Satan aufs Verderben abgesehen, und hätte nicht der gefangene JEsus für die Seinen gewacht und gebetet, so würde eine ganz andere Verheerung im Lager der Heiligen angerichtet worden sein. Nicht weil Petrus seinem inneren Stande nach so leicht zu fällen war, sondern gerade umgekehrt, weil er so reich an natürlicher und geistlicher Begabung war, strömten auf ihn die Kräfte der höllischen Versuchung so gewaltig zu. Wenn solche Helden fallen, muß es schwer gewesen sein, zu stehen. War es nicht, als wenn satanische Nebel vom Himmel und höllische Schuppen vom Auge fielen, als der Hahn krähte und JEsu Auge den armen Sünder Petrus traf? Wars nicht, als ob der HErr ihm, wie dort auf dem Meere, als er sinken wollte, die Hand reichte, − wo er auch im Anfang so muthig, dann plötzlich so verzagt war? Der HErr entriß ihn durch Barmherzigkeit beide Male dem Untergang, auf dem Meer dem leiblichen, im Hof des Hohenpriesters dem geistlichen und ewigen. Das theure, große Rüstzeug mußte hohe Anfechtung und besondere Hilfe, nach schwerer Sünde große Gnaden erfahren, und eben damit innerlich gedemüthigt werden und zum großen Apostel reifen, der von Gnade und Recht zu predigen versteht.

 Auch dürfen wir nicht vergeßen, daß der heilige Petrus nach seinem Fall ganz anders handelt und behandelt wird, als es sonst der Fall ist. Judas fällt − und als ihm die Schuppen vom Auge fallen, verzweifelt er und erhängt sich. Petrus verzweifelt nicht, thut sich kein Leid, geht nicht weg aus dem Kreis der Jünger, welche ja selbst vom HErrn geflohen waren, entzieht sich ihrem Umgang nicht; er beweint seine große Sünde, aber bleibt bei denen, die tief betrübt und ganz verarmt, dennoch des HErrn Eigentum waren und blieben. Er bleibt bußfertig bei seinen Freunden, statt sich der trostlosen, heulenden Unruhe des eigenen Gewißens zu übergeben. Judas trägt das Sündengeld zu den Priestern, den Feinden JEsu, die ihn gewis nicht zu JEsu wiesen; Petrus aber geht nicht zu den Mägden und Kriegsknechten, um sein Wort und seinen Eid zurückzunehmen, sondern zu seinen Mitjüngern, welche, selbst sehr schwach und voller Jammer, grade an der Buße den treuen Jünger und die wirkende Gnade des heil. Geistes erkennen. Kein zerschlagenerer unter den Jüngern als Petrus, dafür aber auch keiner, der von dem barmherzigen Auferstandenen eher getröstet und heimgesucht wird als er. Ein Beispiel der Sünde, aber auch der Buße und Gnade ist Petrus, eben damit zugleich ein warnendes und ein leuchtendes, segensreiches Beispiel, das Gott auch an unsern sündigen Seelen segnen wolle! Amen.




10. Judas Ischarioth.
Matth. 27, 1–10.

 UNter den Zwölfen einer war Judas Ischarioth, der Verräther. So schwer gewöhnt man sich an diesen Satz, daß man sich allerlei Wege ausgedacht hat, theils um Judä Sünde zu verkleinern, theils um sie als eine That darzustellen, in welche er − etwa wie Petrus in seinen Fall − durch eine besondere, in den Umständen gegebene, große, vom Teufel noch besonders gesteigerte Versuchung hineingestürzt worden sei, gewisser Maßen ohne recht zu wißen, wie, und ohne es zu wollen. Allein all das ist vergebliche Bemühung. Schon Joh. 6, 64. lesen wir: „JEsus wußte von Anfang wohl, welche (von Seinen Jüngern) nicht glauben würden, und welcher Ihn verrathen würde.“ Und in demselben Kapitel hören wir den HErrn Selbst Vers 70 und 71 reden: „Habe Ich nicht euch zwölfe erwählt und euer einer ist ein Teufel?“ Und St. Johannes setzte erklärend hinzu: „Er redete aber von Juda Simonis Ischarioth; derselbe verrieth Ihn hernach und war der Zwölfen einer.“ Also JEsus kannte den Judas von Anfang an, daß er ein Teufel sei und Ihn verrathen würde; Er kannte ihn wohl und wählte ihn doch in die Zahl der Zwölfe. Er kannte ihn − ohne Zweifel nicht nach purmenschlicher Voraussicht, sondern wie Er alles wußte und nicht bedurfte,

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 306. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/317&oldid=- (Version vom 8.8.2016)