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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

von sich behauptet, ist ein Lästerer. Das hat aber JEsus gesagt, mehr als ein Mal: also ist Er ein Lästerer. Wenn Er nun Seiner Aussage geständig bleibt, dann ist gefunden, was man wollte. Aber ob Ers geständig bleibt, ob man Ihn nur zum Reden bringt? Er ist so still, so schweigsam; Er schaut so unschuldig, so still in das Getriebe der Mörderhöhle hinein; ob Ihn etwas dahin bringt, die Rotte eines Wortes zu würdigen? Auch dafür findet der Hohepriester den rechten Rath: er beschwört Ihn bei dem lebendigen Gott, da muß Er ja wohl reden. Ernster Augenblick! Kein geistliches Gericht hat jemals einen ernsteren gehabt. Himmel und Hölle lauschen. Die Frage vom Tempel spielt ein geringeres Spiel; aber nun, nun kommt eine, die setzt alles aufs Spiel, von ihrer Antwort hängt alles mit einander ab, das Alte Testament und das Neue und die ganze Welt. Caiphas, blind und dennoch ein erwähltes Werkzeug, der Hohepriester, der erste Mann in Israel, tritt hervor und ruft an den stillen, schweigsamen, ernsten JEsus hin die Frage der gesammten Menschheit, die größte Frage der Welt: „Ich beschwöre Dich bei dem lebendigen Gott, daß Du uns sagest, ob Du seiest Christus, der Sohn Gottes?“ Der Sadducäer redet, als glaube er einen Christus, Gottes Sohn, − er redet im Sinne Israels − und JEsu. Die Frage, die Beschwörung ist zu Ende. Da, horch, da redet der Schweigsame, der bisher noch keine Antwort gab. „Du sagst es, spricht Er. Doch sage Ich euch, von nun an wirds geschehen, daß ihr sehen werdet des Menschen Sohn sitzen zur Rechten der Kraft und kommen in den Wolken des Himmels.“ Also hat Er nun Seine Messiaswürde und Seine göttliche Abkunft, d. i. Seine Gottgleichheit beschworen. Auf einen Schwur hat es der Hohenpriester getrieben, zu einem Schwur ists gekommen. Wird er, wird der hohe Rath dem Schwörenden glauben? Nein, sie glauben nicht. Der Schwur war, wie es scheint, bloß ein Mittel, den stummen JEsus zum Reden zu bringen. Voraus schon war der Hohepriester der Meinung, den Schwur zu einer Lästerung höchsten Grades zu stempeln. Und so thut er nun auch. Kein Zeugnis brauchte man weiter und all die Mühe war unnöthig, man hat aus des Verklagten eignem Schwur und Zeugnis die Ursache des Todes gefunden. Caiphas zerreißt die Kleider und spricht: „Er hat Gott gelästert: was bedürfen wir weiter Zeugnis? Siehe, jetzt habt ihr Seine Gotteslästerung gehört. Was dünkt euch?“ Die überwiegende Mehrzahl antwortet und spricht: „Er ist des Todes schuldig.“ Fertig ist der Spruch. Man speit, so edel sind die Rathsherren von Israel, dem geschworenen Lästerer ins Angesicht, man schlägt Ihn mit Fäusten, man schlägt Ihn ins Angesicht, man spottet Sein dazu und spricht: „Weißage uns, Christe, wer ists der Dich schlug?“ − Und nach also wohl vollbrachter Sache gehen die Rathsherren nach Hause und können ruhig bis zur Morgensitzung schlafen.

 Wie stehen also die Sachen? Entweder ist JEsus ein Lästerer und Lügner, ein meineidiger Lästerer und Lügner, − oder Caiphas und seine Rotte im Ehrengewande sind Gotteslästerer, Gottesverspeier, Gottesschläger, Gottesverspotter. Hie wird ein hohes Spiel gespielt. Ist JEsus ein Lästerer, so wird Er mit Recht getödtet. Wird Er mit Unrecht getödtet, ist Er, was Er sagte, so kann Er im Tode nicht bleiben, wenn Er getödtet wird, wenn Er nicht schon vorher Sich der Bande entledigt und triumphierend von dannen geht. Entweder kann Er nicht sterben, oder Er muß auferstehen, − und steht Er auf, wird Er dadurch gerechtfertigt und erwiesen als Gott und Gottes Sohn, − mehr, als wenn Er nicht gestorben wäre; so müßen Ihn Seine Feinde sehen − gleichviel wann. Ja, Er muß ihnen in den Wolken des Himmels den Beweis liefern; sie müßen Ihn, wie Er gesagt hat, in den Wolken kommen und zur Rechten Gottes sitzen sehen. Und dann sind sie verloren.

 Er stirbt, der Satan und die Priester ruhen nicht, bis sie Ihn ans Kreuz gebracht haben; Er stirbt, denn Er will ja Sein Leben laßen. Aber Er bleibt auch nicht im Tode, sondern nach dreien Tagen baut Er den zerbrochenen, irdischen Leib, daß er geschaut wird als ein Bau nicht von Händen, sondern von Gott erbaut. Die Ihn nach Seiner Auferstehung schauen, wißen, wer der Gotteslästerung schuldig und wer Gott ist, gelobt in Ewigkeit, − und die Ihn nicht sehen, weil sie nicht glauben, Caiphas und die Seinen, sie werden Ihn sehen; sie liegen bald im Staub, aber sie werden ihre Häupter aufheben aus dem Staub und werden Ihn sehen. Die Sache ist also noch nicht aus, es fehlt noch − nicht die Ueberweisung der Gläubigen, denn sie sind innigst überwiesen, sondern die Ueberweisung der Ungläubigen und an ihrer Spitze der Gotteslästerer, der Verspeier, Schläger und Spötter

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 303. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/314&oldid=- (Version vom 8.8.2016)