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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

hat Sein Herz und Muth und Lust gefunden, den Kelch zu trinken, der Ihm verordnet ist; darum soll Petrus mit den andern Jüngern unter Seinem Schutze gehen, alle sollen Ihn allein laßen, Er will nun einsam und verlaßen, aber in Sich Selbst dem Werk gewachsen Seine edle Straße, Seinen Todesweg gehen. Dem Malchus heilt Er das Ohr, auf daß um Seinetwillen niemand leiden oder Schaden haben müße, − und zu den Hohenpriestern und Hauptleuten und Aeltesten spricht Er ein Wort, ganz desselben Sinnes, den bisher seit Ankunft Judä in Gethsemane alle Seine Worte hatten. Er will ihnen zum Verständnis helfen, warum ihnen gelingt, was ihnen zuvor nie gelungen ist, warum sie sich jetzo Seiner bemeistern können. „Ihr seid ausgegangen wie zu einem Mörder mit Schwertern und Stangen, Mich zu fahen; bin Ich doch täglich geseßen bei euch und habe gelehret im Tempel, und ihr habt Mich nicht gegriffen.“ Was heißt das anders, als: ihr wolltet Mich länger und öfter schon greifen, aber es war noch nicht die vom Vater bestimmte Stunde und darum nicht Mein Wille. Aber „dies ist eure Stunde und die Macht der Finsternis“; „wie sollte sonst die Schrift erfüllet werden?“ Hiemit läßt Er ihnen Seine Hände, Seine Arme, Seinen Leib. Nicht macht-, noch wehrlos, aber sanftmüthig und ergeben, voll Willens, Gottes Lamm zu sein läßt Er Sich führen. Die Jünger aber alle flohen unter Seinem Schutz, auch der Jüngling in der weißen Leinwand, der Ihm zu folgen versuchte und darum gefangen werden sollte, entrinnt mit heiler Haut. Niemand, weder Malchus, noch ein Jünger, weder Feind, noch Freund soll mit Ihm leiden, denn Er leidet für alle; über niemand als über Ihn, das Lamm Gottes, gibt der Vater den Bösewichtern Macht. Einer für alle, ganz allein und verlaßen wird Er dahingeführt.

 Ists nicht also? Ist Er nicht ein unbezwinglicher und unbezwungener Held? Die Juden und Pilatus könnten Ihn nicht führen, wie sie wollten, geschweige tödten; aber es wird nun ein höherer Wille vollzogen, dem Er Sich in heißem Kampfe vollkommen untergeben hat. Diese Leute wißen nicht, was sie thun; aber Er weiß es. Sie waren selbst erstaunt, Ihn gefangen zu haben; sie führen Ihn, böse Werkzeuge des ewigen Bösewichts, und Er geht unter ihnen heilig und hehr, von ihnen selbst innerlich gefürchtet und gescheut, ein Schauspiel der Engel und des himmlischen Vaters, dem Seine Eingeweide über Seinem Sohne in Liebe nicht minder, wie im Zorne brausen, Seinen Gang zurück über den Kidron, hinein in die Stadt, zu ungerechten Richtern, zu einem ungerechten und dennoch gerechten Urtheil, denn Er ist Bürge und Stellvertreter und Opfer für alle Sünder.

 Ob der Mond nicht in jener Mondnacht sein Angesicht verhüllte, wie hernach die Sonne? Ich weiß nicht. Aber Du, HErr, leuchtest mir, wie eine Sonne, Du, den Jesaias gesehen und von Ihm gesagt hat: „da Er gestraft und gemartert ward, that Er Seinen Mund nicht auf, wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, wie ein Schaaf, das verstummet vor seinem Scherer und seinen Mund nicht aufthut.“ Von Dir, von Deinem Gang aus Gethsemane in Jerusalem hinein und von da hinaus nach Golgatha, redete Jesaias. Dein Gang voll Niedrigkeit und Hoheit leuchte mir hell. HErr, laß mich Deiner freien Liebe, Deiner Hingabe und Erniedrigung, aber auch Deiner Unschuld, Deiner Hoheit, Deiner Macht, Deiner Siegsgewisheit in allen Aengsten und Deines auch mir erworbenen Verdienstes gedenken, wenn ich verunglimpft und verurtheilt werde um Deinetwillen, sonderlich aber, wenn ich leide um meinetwillen. Dein bitterer Todesgang sei meine Ruhe; Dein getrostes Leiden mein Beispiel, dem ich folge.




8. Der HErr vor dem geistlichen Gericht.
Matth. 26, 57–68.

 ZWei Fragen gibt es, zwei große, die an Wichtigkeit von andern nicht überboten werden können: um die wird es sich nun in der Geschichte der letzten Stunden JEsu handeln; und eine dritte ist ihnen gleich an Würde und Hoheit, aber sie liegt der Welt, die JEsum richten soll, weniger zu Tage und vor Augen, sie gehört

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 301. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/312&oldid=- (Version vom 8.8.2016)