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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

den Kidron hinüber, da wurde es Ihm anders zu Muth. Er wußte, wohin Er gieng, nemlich zum Orte Seiner Gefangennehmung, wo das Lamm gefangen werden wird, das von Anbeginn ausersehen ist zum Opfer für die Welt. Er wußte, was nun zur Vollendung Seiner großen Aufgabe geschehen mußte. Schon lange vorher (Luc. 12, 50.), war Ihm vor dem nun kommenden letzten Lebensabschnitt bange gewesen. „Ich muß Mich, sagt Er, taufen laßen mit einer Taufe; und wie ist Mir so bange, bis sie vollendet werde.“ Auch am Leidensdienstag, da Er aus dem Tempel nach Bethanien hinausgieng, also unmittelbar nach den majestätischesten Abschiedsreden, hatte Er gesagt: „Jetzt ist Meine Seele betrübt. Und was soll Ich sagen? Vater, hilf Mir aus dieser Stunde. Doch darum bin Ich in diese Stunde gekommen.“ (Joh. 12, 27.) Als Er das sagte, war Ihm die Stunde noch ferner, als jetzt, in der Nacht, da Er verrathen ward; nur Sein sicherer Vorausblick ist es, wodurch Er hineinversetzt wird, als wäre sie schon da. Bei Seinem ganzen Gang von Galiläa nach Judäa, von Schritt zu Schritt, von Augenblick zu Augenblick, unter allen Seinen Reden und Seinen Thaten hatte Er die kommende Stunde Seines Kampfes im Gedächtnis − und das Bangen Seines Todes war bei Ihm. Was Wunder, daß nun, beim Gang nach Gethsemane, unmittelbar vor dem Beginn Seiner großen Arbeit Bangigkeit über Ihn kommt, wie ein gewappneter Mann? „In dieser Nacht, ruft Er, werdet ihr euch alle ärgern an Mir; denn es steht geschrieben: Ich werde den Hirten schlagen, und die Schafe der Heerde werden sich zerstreuen.“ Also wird Er von ihnen verlaßen und ganz vereinsamt werden; alle Jünger, auch Petrus wird Ihn verlaßen und Petrus wird Ihn drei Mal verleugnen. Es wird sein, als hätte Er drei Jahre umsonst gepredigt, als wäre keine Seele zu Ihm gesammelt worden. Schon das bewegt Ihn; Er ist noch niemals der Liebe, des menschlichen Umgangs, der brüderlichen Treue bedürftiger gewesen als jetzt: und jetzt wird Ihm alles, was Liebeserfahrung heißt, abgeschnitten − ganz alleine muß Er in Seinen Kampf hineingehen. Er weiß es und will es nicht anders, aber es ist doch eine traurige Sache, wenn es nun kommt. − Er kommt nach Gethsemane. Oelpresse, Gethsemane heißt der Hof und Garten. Dahinein geht Er − nun ist Er am Ort. Er läßt am Eingang die Jünger und nimmt nur die drei Vertrautesten mit Sich; Er reißt Sich auch von denen los − die Macht der Stunde und der nächsten Zukunft dringt auf Ihn ein. Er hat nicht gesündigt, in Ihm ist keine Schuld, kein Todeskeim, Seine Natur, diese heilige und reine, ist in keiner innern Nothwendigkeit zu sterben. Und doch soll Er sterben − Er, der zweite Adam, deßen Leben nach ewigen Gesetzen unter allen Menschen allein vom Tode ausgenommen und befreit war. Dringt doch schon auf uns, die wir von dem Falle her dem Tode geweiht und an den Tod gewissermaßen gewöhnt sind, der Tod mit Schrecken ein; wie viel mehr auf Den, der mit ihm keine Verwandtschaft hatte! Wir können von unserm Standpunkte aus kaum eine Ahnung haben, was für ein schrecklicher Gedanke für den Heiligen und Reinen der Tod war. Ueberdieß ist ja Sein Tod kein gewöhnlicher Tod. Es kommen nicht bloß Menschen, um Ihn zu fahen, zu verdammen und, so viel sie es können, zu tödten; Gott, Sein Vater, übergibt Ihn in der Menschen Hände, − Gott läßt nun den Bürgen des menschlichen Geschlechts alleine, − Satan bereitet sich, den heiligen Weibessamen in die Ferse zu stechen. Es gilt, als Vertreter der verdammten Menschen eines Todes zu sterben, durch welchen alle Forderungen des göttlichen Gesetzes an diese Menschen befriedigt werden und sie selbst frei und ledig ausgehen sollen in Ewigkeit. Wir stehen, meine Freunde, vor einem Tode, von dem wir gerade so viel wißen, als nöthig ist, zurückzuschaudern und stumm anbetend in den Staub zu fallen. Was wißen wir aber von ihm? − Der Gedanke dieses Todes dringt nun in Gethsemane auf den HErrn ein. Es hat Ihn niemand zittern sehen; Wind, Meer und Teufel, Krankheit, Tod und Verwesung, Menschen und Engel − alles beherrschte Er bisher, Er beherrscht noch alles, − so wie Er nicht von Sich redet, von und zu andern spricht, führt Er dieselbe Sprache, wie im Tempel, wie beim Abendmahle, Er hat noch Seine Majestät nicht ausgezogen und zieht sie nicht aus. Und doch ist Er bis zum Tode betrübt, betäubt, rathlos, − Schrecken kommen über Ihn, die Bäche Belials rauschen heran, es gilt nun von Gott statt der Menschen verdammt und Gottes Lamm zu werden: ha, wie wallt Seine Seele, wie schlägt Sein Herz, − wie flieht Sein Blut vor dem Gedanken, den Opfertod zu sterben, weg vom Herzen, wie dringt es vor unnennbarer

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 298. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/309&oldid=- (Version vom 8.8.2016)