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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

zu versetzen, sich zum Engel des Rathes, den HErrn HErrn zum Versucher zu machen: − Drum wohl dem, der seine Seele in seiner Hand trägt, den Mund schließt, das Herz vor dem Zorne verschließt, dagegen aber die Ohren öffnet fürs Wort der Wahrheit und das Herz vor deßen Kräften nicht verschließt! Versuch es nur mit dem heiligen Worte! Es ist kein bloßer bedeutungsvoller Schall, es ist eine Gotteskraft, die da selig macht. Höre nur und laß nicht ab, so wirst du Gottes Gaben aus dem Wort empfangen und das Wunder inne werden, daß überall Gottes Hände und reiche Gaben sind, wo Sein heiliges Wort des Evangeliums erschallt! − HErr, laß uns hören Dein Wort und erkennen Deine Stimme! Rede mit uns, daß wirs verstehen, und sei nicht ferne von uns mit Deinem Troste, wenn uns angst und bange wird um unsre Seele, weil uns Deine Pfeile treffen.


Am Sonntage Rogate.
Jacobi 1, 22–27.

 KAnn man denn ein Hörer des Wortes sein, ohne ein Thäter zu werden? Geht denn nicht durchs Ohr Licht und Kraft des Wortes ins Herz, und kann denn das geschehen, ohne daß man einen Trieb in sich empfindet, dem Wort gemäß zu handeln? Das Ohr, das Herz, die Hand, der Fuß − es sind doch Theile eines und desselben Menschen − und das Ganze, der Mensch, ist doch nicht von so unbegränzter Weite, daß das Wort des Allmächtigen es nicht, wie ein Sauerteig, durchdringen könnte. Da ist ein Teich; wirf einen Stein hinein, so ziehen sich Wellenkreiße durch die ganze Waßerfläche. Da ist eine Kirche − sprich ein Wort, und sein Schall erfüllt ja doch den ganzen Raum. Und das Wort Gottes sollte nicht des ganzen Menschen Meister werden? − Es ist ein Wunder des Allmächtigen, daß Er Seinem Worte Schranken gesetzt hat, über die es nicht geht. Es ist Sein wunderbarer Wille, daß Sein Wort alles überwinde, aber nicht den boshaften Widerstand des menschlichen Willens. Denn so wenig der menschliche Wille etwas zu seiner Seligkeit thun kann, so viel kann er zu seiner Verdammnis thun. Er muß aufhören, zur Verdammnis zu wirken, wenn Gottes Wort zur Seligkeit wirken soll. Aufhören, dem Wort zu widerstreben, und das Wort hören, als eine interessante Sache, und es immer wieder hören; das ists, was von dem Menschen zu erwarten ist. Du wirst nicht lange aus bloßer Neugier hören, so wird aus der Neugier Wißbegier werden, und daraus wird Erkenntnis fließen. Nur Eins stehe dir also fest: „Ich will hören“ − das Uebrige wirkt das Wort. Der Hörer, der nicht zum Thäter wird, hat nicht gehört, wie er hätte hören können, darum ist er kein Thäter geworden. Sieh mit einem Blicke in den Spiegel, so bekommst du ein leicht verlierbares Bild deiner selbst; beschaue dich aber öfter und mit Weile, forschend ohne Vorurtheil, so wirst du deine Züge kennen lernen und deines Leibes Spiegelbild wird treulich in den treuen, inwendigen Spiegel deines Gedächtnisses fallen. So ists mit dem Worte, mit dem Gesetze der Freiheit, mit dem heiligen Evangelium. Wenn du nur einmal, ohne Fleiß und Treue, hörst, so wirst du von der Schönheit JEsu, der dich statt deiner aus dem Spiegel anblickt, nicht gefeßelt werden: fremd, unbehältlich wird dir Seine stellvertretende Liebe und Heiligkeit sein. Aber höre recht, oft, fleißig; was gilts, je länger, je lieber, je ehrwürdiger, je anbetungswürdiger wird dir JEsu Bild werden. Es wird dich feßeln, es wird dich mit Lieb erfüllen, und die Liebe wird dich mit Kraft erfüllen, und die Kraft wird dich nicht ruhen laßen: du wirst thun und immer mehr thun, je länger du Ihn im Evangelio beschaust und Seine Züge erkennst. − Es steht also allerdings bei dir, was du werden willst, ob ein vergeßlicher Hörer, oder ein Thäter des Worts. Ich bleibe aber bei dem Satze: Kein Thäter, der nicht ein rechter Hörer wäre. Erst ein Hörer, dann ein Thäter! Rechte Hörer, rechte Thäter!


Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 282. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/293&oldid=- (Version vom 14.8.2016)