Seite:Wilhelm Löhe - Evangelien-Postille Aufl 3.pdf/292

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

murren nicht, auch wenn sie wunderlichen Ordnungen der Menschen zu genügen haben. Zur Zeit, da die römischen Kaiser die Christen am meisten verfolgten, waren diese bereits so zahlreich geworden, daß des Kaisers Heere voll von Christen waren. Wenn sie die Waffen gegen den Kaiser gekehrt hätten, würde dieser wohl gemerkt haben, daß die Kirche Gottes auch so eine große Macht auf Erden, daß die Pilgrime auch in der Fremde Herren werden könnten. Aber die Christen wußten unsre heutige Epistel, und so sehr ergriffen sie den Sinn der Demuth, so ganz erkannten sie ihre Pilgerpflichten, daß es kein Beispiel gibt, daß die Christen einmal ihre Waffen gegen den Kaiser gekehrt hätten. Sie waren zufrieden, daß sie eine heilige Heimath und ein gewisses Recht an sie hatten; heimwärts gieng ihr Sinn, die Beschwerden und Mühseligkeiten der Reise trugen sie geduldig, stille, fröhlich, und vergaßen nie, daß „Ehret den König“ auch zu Gunsten der verfolgenden Kaiser und „Thut Ehre jedermann“ auch zu Gunsten der Heiden gesagt war, von denen sie zu Marter und Tod geschleppt wurden. Ihre Leiden waren ihnen zu köstlich, als daß sie nicht diejenigen hätten lieben und für die beten sollen, durch deren Hände sie ihnen zukamen. Sie erkannten die Thränen heißer Schmerzen für Perlen, die ihnen Gott darreichte, für eitel Gnade, die aus dem Herzen des himmlischen Vaters quoll. Die Geduld der Heiligen war groß. Darum hat aber auch Gott am Ende den Sanftmüthigen das Erdreich, seinen Christen die Macht über den Weltkreis beschieden − und seit die Welt steht, ist nie ein Triumph errungen worden, wie der der christlichen Religion über das Heidentum, der Fremdlinge über die Sitte der Welt. − Ach, die Gottseligkeit hat die Verheißung dieses und des zukünftigen Lebens. Alle Sorge könnte schweigen, wenn wir nur heilige Pilgrime nach der ewigen Heimath wären! Aber leider, nachdem die Pilger Herren worden sind, haben sie vielfach die Liebe zur Heimath und damit die Sitte der Heimath verloren − und es ist alles so anders!


Am Sonntage Cantate.
Jacobi 1, 16–21.

 IRret nicht, lieben Brüder!“ vermahnt der heilige Apostel, und der Irrtum, vor welchem er warnt, ist kein anderer, als der, Gotte die Versuchung, also etwas Uebles zuzutrauen. Nachdrücklich setzt er hinzu: „Alle gute Gabe und alle vollkommene Gabe kommt von oben herab, von dem Vater des Lichts, bei welchem ist keine Veränderung noch Wechsel des Lichts und der Finsternis“, bei welchem also auch keine Veränderung der Gaben ist, daß Er etwa heute lichte, vollkommene, gute Gaben, morgen aber finstere, unvollkommene, böse Dinge gäbe. − Man sollte denken, vor dem Irrtum brauche man nicht so sehr zu warnen, die Wahrheit brauche man nicht so ernstlich zu versichern. Kommt es denn so oft vor, daß der Wahn, von Gott komme Böses, das Herz des Menschen beschleicht? Der Glückliche beantwortet diese Frage mit „nein“; aber frage den, welcher inwendig und auswendig auf nächtlichen Wegen geführt wurde, der es an sich erfahren hat, was es heißt, arm werden, schwach werden, einsam werden. − Wenn das hochmüthige Herz die unerbittlich wohlthuende, unwiderstehlich gütige, aber dem menschlichen Willen widerstrebende Hand Gottes empfindet; da regt sich gar oft im Inwendigen etwas, davor man erschrecken sollte, und eine kreischende Stimme, die abscheulich ist, spricht: „Segne Gott und stirb!“ Glücklich ist der Mensch in solcher Versuchung nicht, unglücklich, sehr unglücklich ist er, und er weiß es und sehnt sich, von der Last seines Mistrauens frei zu werden. In solchen Fällen ist eine scharfe Warnung: „Irre dich nicht!“ eine Freudenbotschaft und der Spruch: „Alle gute Gabe etc.“ klingt wie ein Lobgesang, wie er denn wahrhaftig auch ein Lobgesang ist. Ein Mensch, der gezeugt ist durchs Wort der Wahrheit nach dem gründlich guten Willen Gottes, hat zwar den Beruf, ein Erstling der Creatur Gottes zu sein, ist auch ein Erstling; aber der Versuchung entgeht er nicht, weder ist er unangreiflich, noch ist er vollkommen. Der Eva im Paradies versucht hat, die doch ein Erstling der Creatur Gottes mit eben so viel Recht, als irgend ein Wiedergeborener nachfolgender Zeiten heißen konnte, wagt sich auch an andere Gotteskinder und sucht immer noch Gott an seine Stelle, sich an Gottes Stelle

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 281. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/292&oldid=- (Version vom 14.8.2016)