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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Gewis, unter dieser Hinweisung auf die doppelte Gewalt, welche der HErr durch Sein Wort auf Leiber und Seelen übte, konnte JEsus dem angefochtenen Johannes zurufen: „Selig ist, der sich nicht an Mir ärgert.“ So, grade so war ja auch von den früheren Propheten der Messias und sein Wirken beschrieben worden − und die Erinnerung an die Weißagung und Erfüllung konnte die Seele des edlen Täufers auf die rechte Straße und zur rechten Schätzung und Erwägung der Thaten JEsu zurückführen. Das Aergernis, welches er genommen, mußte aufhören, und die Seligkeit, welche schon auf Erden in der Gewisheit liegt, daß wir den wahren Helfer und Erlöser gefunden, daß wir keines andern mehr bedürfen noch zu warten brauchen, konnte wieder in das Herz Johannis einkehren und es heilen, ihm seinen Kerker erträglich machen, ihn auch zum geduldigen Ausharren bis ans Ende stärken.

 Geliebte Freunde! Wenn der Mensch eigenen Gedanken Raum läßt, ist er allemal unglücklich; zufriedenes Glück ist nur in völliger Aufgebung eigener Gedanken, bei völliger Versenkung in die Gedanken Gottes, in völliger Hingebung an Seinen allein guten und gnädigen Willen. So lange du zögerst, deinen Gedanken den Abschied für immer zu geben und wie Gott und Christus zu denken und zu wollen, bist du wie Johannes im Kerker, in Nacht, in Qual − und verzögerst deine Ruhe, deine Freude, deine Stärke. Es ist drum in solchen Fällen gut, wenn es einem geht wie Johannes, und der HErr eine Antwort gibt, deren Kürze und Majestät vielleicht ein wenig weh thut, aber auch das Gemüth in die göttliche Ordnung bringt und einen festen Halt reicht, daß man weiß, was man zu denken und zu glauben hat.

 Ich kann mich nicht enthalten, es zu sagen. Unsere Zeit hat mit der, da Johannes gefangen saß, manches gemein. Es geschehen viele einzelne Thaten JEsu an den Seelen, eine Menge Beweise Seines Lebens und Regimentes sind über Deutschland und die ganze Welt hingestreut. Ists nicht leiblich, so ists doch geistlich, also im größern Sinne wahr, daß Blinde sehend, Lahme gehend, Aussätzige rein werden, Todte auferstehen. Und wenn wir nun das hören, so genügt es uns alles nicht. Wir wollen mehr sehen und hören, wie Johannes. Ein Reich, eine Vereinigung der Geister, eine Gemeine der Heiligen, eine Wirkung ins Ganze und eine Umänderung der Massen − kurz eine erscheinende, herrliche Gestalt der sichtbaren Kirche wollen wir immer, und ärgern uns so gerne an dem, was geschieht, sehen und hören nicht, daß der HErr ja Seinen Himmel dennoch füllt und Sein ewiges Reich baut. Ach, da laßt uns doch das Wort vernehmen: „Selig ist, der sich nicht an mir ärgert,“ Seine Worte nicht für klein achten, auf Seine Hände schauen und auf des Tages Abend warten, da es Licht werden und das Vollkommene kommen wird! Wir wollen das kurze Wort der Ermahnung und Bestrafung (und beides liegt drinnen), das Wort: „Selig ist, der sich nicht an mir ärgert“ in die sehnsüchtige Seele faßen und Ihm, dem König, das Reich befehlen, das Sein, Sein heiligster Gedanke, Sein schönstes Werk und Seine liebste Freude ist, das Ihm viel mehr, als uns am Herzen liegt.


 Jedoch laßt uns zu unserm Text zurückkehren. Johannis Jünger nahmen JEsu Worte und trugen sie dem theuren Lehrer ins Gefängnis. Ohne Zweifel nahm Johannes die Botschaft auf, wie er sollte, zu seiner Tröstung und Beruhigung. Wäre das nicht, so würde ihm der HErr auch nicht das Zeugnis gegeben haben, das er ihm gab. Seinetwegen können wir ruhig sein. Aber das Volk und die Jünger JEsu hatten zugehört, als Johannis Jünger im Namen ihres Meisters die Frage anfechtender Zweifel vorlegten; sie hatten die Antwort JEsu gehört. In der letztern lag neben aller Ermunterung etwas Tadelndes, wie fast immer, wenn Gott Seine Heiligen ermuntert, Demüthigung beigemischt ist. Und die Frage selbst war ja von der Art, daß sie einen üblen Schein auf Johannes bringen konnte, wenn man nicht des Täufers Seelenzustand würdigen und die heilige, wahrhaftige grade Einfalt seines Benehmens verstehen konnte. Das Volk konnte Anlaß nehmen, von Johanne geringer als bisher zu denken. Der ganze Vorfall konnte dazu beitragen, Johannes so in Schatten zu stellen, daß auch seine Liebe zu dem HErrn und sein Gehorsam gegen Ihn verdunkelt worden wäre. Das wollte JEsus nicht. Er liebte und ehrte den frommen Boten, den Er vor sich hergesendet hatte, und hielt ihm deshalb eine wunderschöne Vertheidigungsrede, welche

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 018. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/29&oldid=- (Version vom 14.8.2016)