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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

sie, Sein Ohr faßt alle ihre Seufzer, Gebete und Lobpreisungen als Eine große Harmonie von Millionen Stimmen auf. Für dich ist die Kirche ein Glaubensartikel, für Ihn und vor Seinen Augen ist sie auf das Innigste vereinigt, Ein Leib, Ein Geist. − Sie gleicht einem Baume, der unzählige einzelne Theile hat. Faße das Gleichnis ins Auge, geliebter Leser, und sage mir: wo ist dieses Baumes Wurzel, aus welcher der ganze Baum Saft und Leben zieht? Alle Bäume wurzeln in einem Boden. Wo ist der Boden, in welchem der Baum der heiligen Kirche wurzelt? Seine Wurzeln sind im Himmel und seine Zweige sind auf Erden. Die Wurzeln sind im himmlischen Jerusalem, die Zweige sind hier, wo man wallet. Die triumphirende Kirche in der unbegreiflichen Herrlichkeit des ewigen Lebens ist es, welche den Kern der ganzen Kirche ausmacht, die da ist ein Licht der Welt. Alle zerstreuten Christen auf Erden sind Strahlen des Lichtes, von denen man eben so gut sagen kann: sie gehen von dem Lichte aus, als sie kehren zum Lichte und zum Heerde des Lichtes heim. − Ja, wir gehen von dem Lichte des ewigen, himmlischen Jerusalems aus. Die Stadt Gottes ist unser aller Mutter, so viele wir sind, die wir glauben. Von ihr haben wir das Leben, zu ihr eilt unser Leben. Wer gibt uns Flügel des Lichtes, daß wir heimkommen? Wir sind zwar schon in diesem Leben gekommen zum Berge Zion und zu seiner Stadt, denn zu den Lebendigen ist jenes „ihr“ Hebr. 12, 22–24. gesagt. Aber wir sind noch am Fuße des Berges und den Gipfel des Berges und die Stadt darauf sehen wir nicht. Je mehr wir aufwärts und empor zu ihm steigen, desto mehr sehen wir, wie alle Bergansteigenden nur das nächste Stückchen Weges. Wir wißen nicht, wie nahe wir dem Gipfel sind, bis wir vor den Thoren der Stadt stehen, die des Gipfels Krone ist! − Ach, wer stellt uns hin vor diese Thore? Wer thut uns auf? HErr, die Lasten des Gesetzes nimm von unserem Fuß! Die Flügel, den Drang, den Geist des Evangeliums verleih uns − und vielen Tausenden, und laß der, die da einsam heißt auf Erden, Kinder geboren werden, schön und zahlreich, wie der Thau ist, wenn er vom Morgenroth auf die Erde fällt!


Am Sonntage Judica.
Hebräer 9, 11–15.

 FReund! hast du keine Sünde gethan, die obwohl sie längst begangen ist, deinem Gewißen doch immer neu und unvergeßlich ist? Die dir einfällt, so oft der Pfarrer von der Sünde predigt und oftmals in einsamen Stunden, wenn dir niemand predigt? Die du nicht in Abrede stellen kannst, die du bekennen mußt? Deren du dich aber im Innersten deiner Seele schämst? − Sei aufrichtig! Hast du keine solchen Sünden auf dir liegen? Wenn du mit ja antworten mußt, so hast du zur heutigen Epistel den Boden gefunden, von welchem ihr Verständnis emporkeimen muß, denn du kennst etliche von den „todten Werken, von welchen dein Gewißen gereinigt werden muß.“ (V. 14.) Du kennst den Schmutz deiner Seele − und hast zugleich in dir ein herzliches Sehnen nach Reinigung von ihm! − − Aber wie wird die Reinigung kommen? Den Schmutz erkennst du und sehnst dich, seiner los zu werden, aber Reinigung, Reinigung ist schwer! Wenn dir einer beweisen könnte, daß die Erinnerung an deine alten, unvergeßlichen Sünden ein Wahn sei, daß du sie nie begangen habest, daß dich in der Angst deiner Sünden nur ein ängstigender Traum verfolge, − dem würdest du danken, so lange du leben würdest. Denn du würdest dich gereinigt sehen, da du vorher in deinem Auge so schmutzig warst. Aber siehst du, es gibt keinen, der dir jenen Beweis liefern könnte; es ist kein Traum, daß du so gesündigt hast, und es ist nicht die Angst eines Traumes, was dich quält, sondern eine rechte gewaltige Angst deiner Werke, deiner Sünden! − Wenn einer aufstände, der ein Waßer hätte, welches aus der Tiefe des Gewißens die Mißethat auswaschen könnte, durch welches alles Gedächtnis der Sünde ausgetilgt werden könnte aus dem Herzen des Sünders: wie meinst du, wäre dir der willkommen? Mir wär ers nicht. Das heiß ich keine Reinigung meines Gewißens, wenn ich meine Sünden vergeße, während mich doch meine Sünde nicht verläßt, sondern

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 273. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/284&oldid=- (Version vom 14.8.2016)