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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

 Aber freilich, eine Schuld gibt es, die können wir nie völlig von uns bringen, ob wir schon immer dran zahlen, und wir wollen sie auch nicht los werden, sondern sie behalten bis zum Grabe. Es ist eine liebe Schuld, die nicht drückt, obschon sie rührig und thätig macht und immer und ohne Unterlaß zum Zahlen treibt. Wißet ihr, was gemeint ist? Es ist die Bruderliebe. Wir zahlen immer dran und werden nicht fertig, denn wir lieben alle Tage und können nicht fertig werden zu lieben, sollens und wollens auch nicht bis ins Grab. Und diese Schuld der Liebe drückt uns auch nicht, sondern wir tragen sie gern und es ist uns eine heilige Freude, uns mit ihr immer und immer zu bemühen. Das ist die Schuld, von der auch St. Paulus spricht: „Seid niemand nichts schuldig, denn daß ihr einander liebet“.

 Man könnte allenfalls sagen, es sei doch die Liebe nicht die alleinige Schuld, denn wir seien ja schuldig, das Gesetz zu erfüllen; das Gesetz sei ein Gläubiger, deßen Schuldner wir allzumal wären bis ins Grab. Doch hätte man damit nur zum Schein eine zweite Schuld aufgebracht, sintemal ja die Liebe des Gesetzes Erfüllung ist, und, wer Liebe übet, dem Gläubiger, der Gesetz heißt, volle Genüge leistet. Das Gesetz verbeut den Ehebruch − und die Liebe bricht nimmer die Ehe, weil sie dem Nächsten nichts Böses thut. Das Gebot spricht, du sollst nicht tödten, nicht stehlen, nicht falsch Zeugnis geben, dich soll nicht gelüsten; und alles das unterläßt die Liebe gerne, denn sie thut dem Nächsten nichts Böses und müßte ihm doch allemal Böses thun, wo sie solches thäte. So sind alle Gebote zusammengefaßt in das Gebot der Liebe, alle Gesetzesschulden in die Liebesschuld und alle Gesetzeserfüllung in die Liebeserweisung, − und wer liebet, der zahlt alle Schuld und bleibt nichts schuldig, als immer zu und immer weiter zu lieben.

 Es ist allerdings auch die Liebe zu Gott eine Schuld, die wir haben, die wir, ob wir es schon täglich thäten, doch nimmer völlig abtragen können, in der wir immer mit der Zahlung zurückbleiben. Aber eines Theils wird Gott von denen sicher am redlichsten die Liebe heimgezahlt und aufgeopfert, welche den Nächsten lieben; denn in der Nächstenliebe erweist sich die Gottesliebe, wie geschrieben steht: „Das ist die Liebe zu Gott, daß wir Seine Gebote halten“. Und andern Theils ist es fast nicht paßend, die Liebe zu Gott eine Schuld zu nennen. Bei jeder Schuld entbehrt der Gläubiger etwas, wenn er sie dem Schuldner ausleiht. Was entbehrt aber Gott, wenn wir Ihm die Liebe nicht bezahlen, die wir Ihm widmen sollen? Und was genießt Er, wenn wir sie bezahlen? Ist Er nicht vollkommen selig ohne uns und mit uns? − Aus beiden Gründen mag es kommen, daß St. Paulus, da er von unsern Schulden spricht, nur von der Schuld der Nächstenliebe redet, nicht aber von der Schuld der Gottesliebe.

Am fünften Sonntage nach dem Erscheinungsfeste.

Colosser 3, 12–17.

 AUserwählte Gottes, Heilige und Geliebte“ − das ist eine Anrede, die den Christen aus dem tiefsten Schlafe der Vergeßenheit seiner Würde erwecken und anreizen kann, allen Forderungen seines Gottes mit größtem Eifer nachzukommen. So redet der Apostel die Colosser an, und zeigt ihnen dann aber auch eine Lebensaufgabe, die solcher Anrede würdig ist. Diese Aufgabe ist liebevoller Friede, voll feiernder Anbetung wie sie im Vorhof des Himmels, in der Kirche Gottes auf Erden sein soll.

 Die Colosser und alle Christen sind Ein Leib. Jeder Christ ist des großen Leibes Glied. Gleichwie die Glieder nicht wider einander sind, nicht mit einander hadern und Krieg führen, so sind die Christen nicht wider einander, hadern und streiten auch nicht, sondern der Friede des heiligen Leibes Christi faßt sie alle zusammen. Unter Christen ist Friede, und das Geheimnis ihres seligen Friedens, worin liegt es? Sie haben herzliches Erbarmen, Freundlichkeit Demuth, Sanftmuth, Geduld, sie vertragen und vergeben einander nach Christi Vorbild. Sieben heilige, edle Früchte eines und desselben Baumes, der sie alle zeuget! Denn sie kommen alle aus der Liebe. Die Liebe allein ist barmherzig und freundlich, liebt das Niedrige, beugt sich und weicht gerne, ist langmüthig, erträgt alles, läßt sich nicht erbittern,

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 264. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/275&oldid=- (Version vom 14.8.2016)