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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Zorne gebe man nur Raum, er wird seine Stunde finden, wo er alles und jedes bezahlt, wo der HErr Sein Wort lösen wird, das Er gesprochen hat: „Die Rache ist Mein, Ich will vergelten, spricht der HErr“.

 Aber ists denn nicht schöner und dem allgemeinen Grundsatz edler Großmuth, den wir V. 17 angeführt finden, entsprechender, ists nicht christlicher, dem Beispiele des dreieinigen Gottes entsprechender, zu verzeihen, für die Feinde zu beten, ihnen Gutes zu thun? Ist nicht Feindesliebe ein Kennzeichen der Christenheit? Was klingt schöner, als das Wort: „So deinen Feind hungert, so speise ihn; dürstet ihn, so tränke ihn. Wenn du das thust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln“? Was klingt schöner im Ohr und was ist schöner, wenn es geschieht, wenn es nicht bloß einmal geschieht, wenn es zur heiligen Lebensgewohnheit und täglichen Tugend wird? Und was sänftigt und befriedigt mehr, als ein solches Thun? Ist nicht eine Seligkeit darin? Kann man nicht auch auf einen solchen Thäter des himmlischen Befehls die apostolischen Worte anwenden: „Derselbige wird selig sein in seiner That!?“


 Zweimal dieselbe Gedankenreihe hat der Apostel den Römern vorgetragen, nur das zweite mal bestimmter, eingreifender, mächtiger. Zweimal haben wir sie selbst gelesen. Aber ists denn genug, daß sie zweimal wiederholt ist? Wie oft müßte sie für die meisten Menschen wiederholt werden, wenn sie das Böse aus dem Herzen verdrängen und einen Sinn des Friedens und der Liebe einpflanzen sollte? Ach von Fertigkeit, von Gewohnheit, von beständiger Tugend friedfertiger Feindesliebe wollen wir einmal ganz absehen! Wir wollen nur fragen, wer es überhaupt irgendwie, wenn auch unter schwerem Kampf, dahin bringt, Beleidigungen zu überwinden, wer sich nur so weit bezwingen kann, dem Bösen keine Folge zu geben, nur im äußern Thun sich gleich und allzeit ruhig zu verbleiben? − Es ist ein Kampf im Herzen, den die meisten Menschen sehr oft zu kämpfen haben. Das Böse, was sie erleiden, will sie überwinden, daß sie auch Böses thun und bös werden. Es hängt manchmal nur noch an einem schwachen Faden, so ists um sie geschehen, so sind sie überwunden und die Rachsucht ist, wie eine schwere Last oder wie ein tödtendes Meßer über ihren Nacken gefallen. Ach, wie schwer ists vielen, sich nicht thätlich an ihren Feinden zu versündigen! Wie sehr bedürfen sie der apostolischen Warnung: „Laß dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem“! − Der HErr sei ihnen doch gnädig, daß sie nicht dem Menschenmörder in die Arme fallen, indem sie ihres bösen Herzens Zug und Lockung gehorchen! Gott sänftige alle Herzen durch Seine Sanftmuth! Amen.


Am vierten Sonntage nach dem Erscheinungsfeste.
Römer 13, 8–10.

 DIe meisten Menschen haben im Leben irgend einmal Schulden gehabt, und wer sie gehabt hat, wird gestehen müßen, daß es kein angenehmer Zustand war. Man fühlt sich gedrückt, oder wenn man auch keinen Druck empfindet, so ist man doch nicht frei, nicht völlig selbständig, und deshalb ringt ein jeder redliche Mann, seiner Schulden los und in Erdendingen, was fremdes Geld anlangt, unabhängig und selbständig zu werden. Und wenn man es geworden ist, da athmet man so viel freier und leichter, da entschließt man sich, lieber jede Einschränkung zu erdulden, als sich wieder in das Joch der Schulden und des fremden Geldes zu begeben. Und das ist auch nicht unchristlich. So schreibt St. Paulus an die Thessalonicher 1. Br. 4, 11. 12.: „Ringet darnach, daß ihr stille seid und das Eure schaffet und arbeitet mit euren eigenen Händen, wie wir euch geboten haben, auf daß ihr ehrbarlich wandelt gegen die, die draußen sind, und ihrer keines bedürfet.“ Und er selbst gieng ihnen voran und wenn er des Tages gepredigt hatte, arbeitete er lieber des Nachts und machte Teppiche, ehe er den Ruhm, den er sich vorgenommen, völlig frei und umsonst den Heiden das Evangelium zu predigen, aufgegeben hätte. Das ist derselbe Mannessinn, welcher sich auch in unserm Texte in den Worten kundgibt: „Seid niemand nichts schuldig!“

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 263. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/274&oldid=- (Version vom 14.8.2016)