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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

gewesen, dem Volke die falsche Schriftauslegung der neuen Zeit zu enthüllen? − Erkennet hieraus, meine Freunde, wie wichtig die apostolische Regel ist und richtet euch ferner nach ihr zu euerm Heile!


Am dritten Sonntage nach dem Erscheinungsfeste.
Römer 12, 17–21.

 MIt Ausnahme des ersten Satzes, welcher Eigendünkel verbietet, handelt diese ganze Epistel von dem Benehmen der Christen gegen die Beleidiger und Feinde. −

 Gerechtigkeit ist es, einem jeden zu geben und zu laßen, was ihm gehört, aber in eigenen Händeln wird dem Menschen nicht die Gerechtigkeit, sondern Mäßigung, Selbstverläugnung und verzeihende Liebe geboten. Wenn also Böses erlitten wurde, soll nicht mit Bösem und gleicher Münze bezahlt werden: „vergeltet niemand Böses mit Bösem,“ spricht der Apostel. Schon dieß Verbot ist nicht leicht. Es drängt den Menschen, so wie er ist, zur Wiedervergeltung, und die Gerechtigkeit selbst scheint seine Vertheidigung zu übernehmen, wenn er seinem Trieb und Drange folgt. Denn was gibt er seinem Beleidiger, wenn er ihm Böses mit Bösem bezahlt, als Gerechtigkeit? − Und doch ist Wiedervergeltung verboten, und es bleibt nicht bei diesem Verbote, sondern es kommt noch ein ausdrückliches Gebot hinzu, welches ein edles und großmüthiges Benehmen gegen alle Welt befiehlt. Denn das ist am Ende doch der Sinn des Satzes, welchen Luther mit den Worten wiedergibt: „Fleißiget euch der Ehrbarkeit gegen jedermann.“ Die Ehrbarkeit, von welcher hier die Rede ist, ist eine Ehrbarkeit im höhern Styl, jene nemlich, die die Ehre darein setzt, allewege das Edle zu vollbringen, die also im Falle erlittener Beleidigung großmüthig nicht bloß verzeiht, sondern Gutes für Böses erweist.


 Anstatt der Selbstsucht, die nur auf Recht und Gerechtigkeit trotzt, wird dem Christen ein Beweggrund für sein Thun und Laßen empfohlen, der, wenn er festgehalten wird, über viel Leid hinweghilft und getrosten Muth gibt, manches zu ertragen, was sonst unerträglich schiene. Ich rede von dem Lebensgrundsatz der Friedfertigkeit. „Ists möglich, so viel an euch ist, so habt mit allen Menschen Friede.“ Es ist nicht immer möglich, Friede zu halten, denn es liegt nicht immer an uns. In eigenen Sachen können wir immerhin den Frieden höher stellen als das Recht, aber in fremden Sachen, oder wenn es die Seligkeit des Beleidigers selbst oder die Ehre des Allerhöchsten gilt, da können wir es nicht. Da ist es Geduld und entschloßener Muth der Gläubigen, getrost hineinzugehen in den Kampf für den HErrn und die Seligkeit der Brüder. Ach, wer einmal geschmeckt hat, wie sanft es thut, Grundsätze der Friedfertigkeit, seis auch mit Selbstverleugnung auszuüben, der weicht nicht gern von der Friedensbahn; für ihn ist es eine schwere, aber herrliche Erprobung himmlischer Gesinnung, den Frieden zu brechen. Es sind aber nur Wenige, die den Frieden so brünstig lieben, daß man ihnen die Ausnahmen der Friedfertigkeit einprägen muß; die meisten haben Ursach, das apostolische Wort sich alle Tage zu erneuen: „Ists möglich, so viel an euch ist, so habt mit allen Menschen Friede“.


 Wie viele bringen es nicht einmal bis zu dem mindesten Grade der Friedfertigkeit, ich meine bis zur Ueberwindung der Rachsucht! Wenn ein Beleidigter sein Recht sucht, spricht der Apostel zu ihm: „Warum laßet ihr euch nicht viel lieber vervortheilen?“ Es ist ihm schon das Dringen auf Recht in eigenen Dingen ein Greuel, und nun erst die Rachsucht, die es zu langweilig findet, das Rechte bei den Gerichten zu suchen, die ungestüm zur Wiedervergeltung drängt und am liebsten Kläger, Richter und Büttel in Einer Person wird! Aus seinem Herzen voll Lieb und Frieden stammt deshalb die brünstige Vermahnung: „Rächet euch selbst nicht, meine Lieben“! − Warum wird es uns denn schwer, uns der Rachsucht zu entschlagen? Ist es uns so gar süß, andere um unsertwillen gestraft zu wißen; muß es sein, können wir nicht anders ruhig werden, je nun, das Auge des ewigen Richters wacht und Sein Zorn zürnt an unsrer Statt. Dem

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 262. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/273&oldid=- (Version vom 14.8.2016)