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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

verändert werden, sonst kommt jene Weisheit nicht! Nur wer seinen Sinn verändern und verneuen ließ, kann weise werden, sich und andere über Gottes Willen zu berathen. Der ganze Mensch ist gefallen und verderbt, so ist auch der Sinn, das, was im Menschen erkennt und urtheilt, verderbt. Wie der ganze Mensch, so muß der Sinn erneut werden, und ein Mensch, der sich nie verändern, erneuen, bekehren will, wird nie wahrhaft weise werden, wird niemals guten Rath für sich und andere erfinden. Lebensweisheit findet sich nur bei Christen.


 Der dritte Gedanke ist von dem zweiten verschieden, aber dennoch nahe mit ihm verwandt. Alle Weisheit hängt mit der Bekehrung zusammen, aber wenn schon einer bekehrt ist, ist er doch nicht in allen Dingen weise, sondern der HErr gibt ihm seine besondern Gaben, nach deren Maß er weise ist, über die hinaus ihm niemand Weisheit zutrauen soll. Alle Gaben hat keiner, als einer, der das Haupt ist; alle andern haben nur einzelne Gaben. Darum sagt der Apostel, es solle ein jeder mäßiglich von sich selbst halten, je nachdem ihm Gott das Maß des Glaubens und der dem Glauben entquellenden Gaben zugetheilt hat. Es ist in diesem Gedanken, wenn er recht gefaßt wird, ein fruchtbarer Same der Bescheidenheit und des Friedens. Denn wo ein jeder sich und andere nach dem Maße des Glaubens und der Gnadengaben beurtheilt, da stirbt die eitle Unzufriedenheit und Selbsterhebung, da lebt und nützt ein jeder nach seinem, seis großen oder kleinen Maße zum Preise Gottes.


 Der vierte Gedanke ist wiederum dem dritten ganz verwandt. Die Menschen sind leider so geartet, daß ein jeder in angeborner Selbstsucht sich für ein abgeschlossenes, für sich bestehendes Ganze hält, das sich um andere nichts zu kümmern habe. Da kommt der Apostel und lehrt uns, die Kirche sei ein Leib, an welchem jeder einzelne Christ ein Glied sei. Also ist keiner für sich ein Ganzes, keiner darf sich von dem andern abschließen, jeder muß sich, wie ein Glied dem andern, anschließen. Also muß jeder auch seine Größe und Grenze, seine Gestalt und seine Gabe, seinen Nutz und Brauch erkennen lernen, mit allem was er ist, dem ganzen Leibe dienen und zufrieden damit sein, daß er die Pflicht eines Gliedes erfüllt und zu dem großen, heiligen Leibe JEsu gehört. Was liegt also in dem Gedanken des Leibes Christi oder Seiner Kirche für eine schöne, liebliche, demüthige Weisheit! Wer ein Feind eigensüchtiger Vereinzelung, ein Freund wahrer Einigung ist, der faße die schöne Lehre des Apostels und Christi von der Kirche. Da findet ein jeder einen HErrn, den er vertragen kann, Christum, den Allerhöchsten. Gegen Diesen gilt kein Neid, und dieser wird auch keinem an Seinem Leibe einen Platz anweisen, an den er nicht gehört, sondern einen jeden zu dem Gliede machen, zu dem er versehen und bereitet ist.

 Gott segne uns diese Lehren an unsern Herzen! Amen.


Am zweiten Sonntage nach dem Erscheinungsfeste.
Römer 12, 7–16.

 DIe drei Episteln der drei ersten Sonntage nach dem Erscheinungsfeste sind fortlaufende Bestandtheile eines und desselben Capitels der heiligen Schrift, des zwölften an die Römer. Sie stehen im unmittelbarsten Zusammenhange mit einander. Am Ende der vorigen Epistel hat St. Paulus gelehrt, daß alle Christen Glieder am Leibe Christi seien, und daß ein jeder seine besondere Gnadengabe habe, mit der er der Gemeinde dienen soll. Die heutige Epistel gibt uns nun ein langes Register einzelner herrlicher Gnadengaben, welches auf kurzem Raume durchzugehen gar nicht möglich ist. Ein jeder Leser verweile aber selbst bei den einzelnen Theilen des Registers, suche sich jedes Wort verständlich zu machen und aus allen Theilen das Ganze, die innere Gestalt einer christlichen Gemeinde, zusammenzustellen. Wird auch die Arbeit nicht schnell gelingen; so wird doch viel Licht in die Seele kommen, das zuvor nicht vorhanden war. Namentlich wird man bald begreifen, wie gar vieles noch fehlt, bis unsre gegenwärtigen Gemeinden dem Maße des

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 260. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/271&oldid=- (Version vom 14.8.2016)