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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

davon merkt und wißen will. − Glück auf und Hosianna Dem, der gekommen ist, ein Licht zu erleuchten die Heiden und zum Preis Seines Volkes Israel! Hosianna im Namen aller Heiden, die gekommen und im Lichte Zions entschlafen sind, die noch in diesem Lichte leben, und die da kommen werden! Hosianna im Namen der letzten und für sie, ihnen zum Heil! Möge die Fülle der Heiden bald eingehen, das Uebrige Israels sich bald sammeln! Mögest Du Selbst bald erscheinen, o Sonne, HErr JEsu Christe, und das ewige Reich beginnen! Amen.


Am ersten Sonntage nach dem Erscheinungsfeste.
Römer 12, 1–6.

 EIne jede Zeit hat gewisse göttliche Gedanken, die ihr von dem heiligen Geiste mehr zum Verständnis gebracht werden, als den Menschen früherer Zeiten; eine jede aber macht sich auch durch ihre besondern Sünden unempfänglich für andere Gedanken Gottes, welche nicht minder klar und deutlich im Worte Gottes ausgesprochen sind. Jene pflegt sie überall in der Schrift zu finden, diese überall oder doch meistens zu übersehen. Eine traurige Warnehmung, aus der man sichs erklären kann, warum es so langsam dem vollkommenen Mannesmaße entgegengeht, zu welchem wir doch alle berufen sind! − Unsre Epistel scheint insonderheit vier von unsrer Zeit wenig erkannte Gedanken Gottes vorzulegen. Die laßt uns jetzt hören und Gott bitten, daß wir sie zum Heile und zur Vollendung unsrer Seelen verstehen lernen.

 Durch Christi einiges Opfer sind alle Versöhnopfer aufgehoben. Er hat durch Sein einiges Opfer in Ewigkeit alle vollendet, die geheiligt werden. Das ist ganz richtig, dagegen aber ist z. B. das Dankopfer nicht aufgehoben. Die Gegenstände, welche Gott geopfert d. i. dargebracht werden sollen, haben sich etwa geändert; statt der Thiere etc. sollen werthvollere Dinge dargebracht werden; aber die heilige Handlung des Dankopfers bleibt. Das ist so gewis, daß man behaupten kann, der Opfergedanke sei ein Lieblingsgedanke St. Pauli, gerade desjenigen Apostels, der aus dem alten Bunde nur das aufbewahrt und empfiehlt, was einen dauernden Werth hat. So will er z. B. in unsrer Epistel, daß die Christen ihre Leiber Gott zum Opfer begeben sollen, das da lebendig, heilig und Gott wohlgefällig sei, − und das nennt er ihren vernünftigen Gottesdienst. − Leider, meine Freunde, ist der heilige Opfergedanke bei uns sehr verschwunden. Alles, was Gott von uns haben will, erkennen wir nur als ernste Pflicht; dahin aber bringen es wenige, daß sie ihre Liebesarbeit als freiwilliges, seliges, festliches Opfer dem HErrn widmen. Der Gedanke der Pflicht ist ein kalter Gedanke, welcher ungeschickt ist, Vergnügen zu erregen; aber der Opfergedanke ist ein heiliger, schöner Gedanke, zu dem sich auserwählte, nach Vollendung ringende Seelen gerne erheben laßen durch den Geist des HErrn. − Ein wahrer und heiliger Gedanke ist in seiner Würde, so wie er ist; aber in vollkommener, herzgewinnender Herrlichkeit erscheint er erst dann, wenn er die feiernde Schönheit und Gestalt des Heiligtums trägt. Daß einer seinen Leib nach Gottes Geboten halten, pflegen und regieren soll, ist wahr und recht; aber schön, lieblich und angenehm wird es erst, wenn es zum Gottesdienst verklärt, wenn es zu einem Opfer Gottes erhoben wird. So ist es mit allen Gedanken, mit allen Werken, mit allen Zuständen. Was nicht einen Platz im heiligen, von dem HErrn Selbst geordneten Gottesdienste findet, ist nicht zur Vollendung gekommen, auch wenn es sonst ganz wahr und recht ist. Gottesdienstliches Leben ist das allerhöchste − und das Leben im Himmel ist eitel Gottesdienst.


 Der zweite von den oben erwähnten vier Gedanken ist der: Man muß sich verneuern durch Veränderung des Sinnes, wenn man prüfen will, welches da sei der gute, der wohlgefällige und der vollkommene Gotteswille. Es ist eine herrliche Lebensweisheit, überall und in allen Fällen zu erkennen, was Gottes guter, wohlgefälliger, vollkommener Wille sei. Wenn Gott eine Familie segnen will, gibt Er ihr einen Mann, der Meister in solch praktischer, heiliger Weisheit ist. Aber woher kommt diese Weisheit? Und bei wem wohnt sie? Der Sinn muß verneut und

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 259. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/270&oldid=- (Version vom 14.8.2016)