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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

als lügenhafte Selbstbeherrschung. Das sieht man an Johannes, der durch Kundgebung seines Jammers nur desto sicherer seines besten Freundes Liebe und Achtung gewinnt! Und wer auch diese Wahrhaftigkeit nicht zu schätzen wüßte, der wird doch jedenfalls Johannis große Einfalt anerkennen, welche ihn zur Lösung seiner Zweifel, zur Aufhellung seiner Nacht, zur Zerstreuung seiner Anfechtung grade zu Dem führt, an dem er zweifelt, deßen Glanz ihm zu erlöschen droht, um deßen willen er angefochten ist. Ob JEsus sei der Christ, ob er den großen Beruf habe, die Welt zu erlösen, daran sind ihm anfechtende Zweifel aufgestiegen; aber die heilige Würde JEsu, Seine Wahrhaftigkeit und Redlichkeit und Seine Fähigkeit, die Wahrheit zu sagen, stehen unbestritten, nebellos und glänzend vor seinem Geiste. JEsus bleibt ihm dennoch seine einzige Zuflucht, sein heller Stern: von keinem Menschen begehrt er Licht und Stärkung als von Ihm selber. An Ihm zweifelt er − und von Ihm verlangt er die Lösung seiner Zweifel. Sonst fragt man denjenigen nicht selbst, über welchen man Auskunft will, denn man fürchtet, er möchte in eigener Sache ein bestochener Richter sein. Daß solches Mistrauen in Johannis Seele keinen Platz findet, ist ein Beweis von der Höhe und Herrlichkeit seines Gemüthes, von seiner heiligen Einfalt, die ihn nicht irre führen konnte. − Wie schön ist dieser Held, an dessen Lichte sich die Juden freuten, da er nun zu seinem JEsus, seiner Sonne, kommt, um neues Licht, − zu seinem Fels, um die alte Ruhe aufs neue wieder zu finden! Wenn wir angefochten und zweifelhaftig werden wollen, so sei uns Johannes ein Herzog auf dem rechten Wege − und es geschehe uns dann wie Ihm, so ist es in Wahrheit genug und alles Dankes werth.


 Zwar scheint das, was Johanni geschehen, nicht beim ersten Anblick alles Dankes werth. Das Benehmen des HErrn gegen den fragenden Propheten ist uns nicht alsbald verständlich. Aber Johannes verstand die kurze Antwort Jesu und sie genügte ihm ohne Zweifel. Laßt uns diese Antwort etwas genauer ins Auge faßen. „Geht hin und saget Johanni, was ihr sehet und höret“, das ist der Anfang der Antwort. Also auf das Augen- und Ohrenzeugnis Anderer, seiner Jünger, verwies er den angefochtenen Freund. Das hieß nichts anderes, als ihm die Lage, in der er war, als hinreichend zum Wohlbefinden seiner Seele preisen. Grade diese Lage war dem Täufer eine Quelle der Anfechtung, grade sie war ihm verleidet, aus ihr wäre er gerne herausgerißen gewesen; − und grade sie wird ihm zur Aufgabe gestellt, sie muß er anders verstehen, mit noch kindlicherer, verleugnenderer Demuth faßen lernen. Johannes hätte gerne mit eigenen Augen und Ohren gesehen und gehört und am liebsten noch Größeres, als er hätte sehen und hören können: vor JEsu her, mit Ihm durchs Leben kräftig wirkend zu gehen, das wäre dem Vorläufer recht und lieb gewesen. Und nun wird ihm anderer Leute Sehen und Hören als Seelenarzenei bezeichnet, er, der Lehrer, muß von seinem Lehrstuhl steigen und zu Füßen seiner Jünger Platz nehmen, eigenen Sehens und Hörens muß er sich begeben, in vollster Entsagung von dem leben und genesen, was ihm seine Jünger sagen können. Er muß aufhören ein Prophet zu sein und ein Jünger seiner Jünger werden. So gehts, und so gehts zum Himmel. Wenn einer gearbeitet und gewirkt hat lebenslang, muß er den Ballast seiner Lebensarbeit abwerfen, klein werden, leicht werden, daß er, wenn Gott ruft, zum Fluge in die ewige Freude tauge. Das geht dann oft so schwer, und doch ists grade die Aufgabe, die kampfgeübte, im Leben und seiner Last versuchte und erfahrene Männer zur Vollendung führt. Sterben, ehe man stirbt − das ists, um was es sich handelt. − Das ist die lichte Straße, welche freilich leicht zur Anfechtung wird, wenn man sie erst kurz betreten hat.

 Was wars nun aber, das die Jünger Johannis gesehen und gehört hatten, was sollten sie ihm in seinem Kerker erzählen? Was soll er hören und erwägen? Das laßt uns einmal warnehmen! Es ist ein Doppeltes. „Die Blinden sehen und die Lahmen gehen, die Aussätzigen werden rein und die Tauben hören, die Todten stehen auf.“ Daß das wahr sei, konnten die Jünger grade recht überzeugend schauen, als sie zu dem HErrn kamen; denn eben war Er in lauter solchen Beweisen Seiner Herrlichkeit begriffen. Die Jünger konnten mit Augen schauen, welche Macht JEsu Geist über aller Menschen Leiber hatte. Es war hier nicht von menschlichem Heilen die Rede: menschliche Aerzte wirken auf der Menschen Leiber durch leibliche Mittel, ihr Geist, ihr Wille, ihr

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 016. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/27&oldid=- (Version vom 14.8.2016)