Seite:Wilhelm Löhe - Evangelien-Postille Aufl 3.pdf/264

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

schauen wir alles zusammen − und vergeßen nicht, meine Brüder, daß auch wir von der züchtigenden Gnade fürs ewige Heil erzogen werden sollen. Der HErr helfe uns zu solchem Weihnachtssegen!


Am zweiten Weihnachtstage.
Titum 3, 4–7.

 AUch diese Epistel, wie so viele im Kirchenjahre, gibt uns etwas Ganzes vom Reiche Gottes und klingt doch ganz weihnachtsmäßig, so wie wir nur ihren ersten Vers uns weihnachtsmäßig deuten. Dieser erste Vers ist so sehr dem ersten Worte der gestrigen Epistel ähnlich. Gestern lernten wir die Geburt JEsu als eine Erscheinung der heilsamen Gnade Gottes anschauen; heute wird uns ein ganz verwandter Blick eröffnet, wir sehen den Neugeborenen im Lichte unsers Textes als eine Erscheinung der Freundlichkeit und Leutseligkeit Gottes, unsers Heilandes. Gnade, wie es gestern hieß, − und Freundlichkeit, Leutseligkeit, wie es heute heißt, widersprechen einander nicht, sondern sind im innersten Eins. Alle Freundlichkeit und Leutseligkeit Gottes, unsers Heilandes, ist Gnade, nichts als Gnade, darauf deutet schon der Umstand, daß Gott unser Heiland, unser Erretter genannt wird, wir demnach als arme, erlösungsbedürftige Sünder angesehen werden. Wie freundlich, wie leutselig naht Sich Gott den Sündern, − wie lieblich läßt Er uns durch die Namen „Freundlichkeit, Leutseligkeit“ Seine Herzensmeinung und Gesinnung beschreiben!

 Der erste Vers hat ein Rückwärts und ein Vorwärts. Rückwärts, hinter der Krippe sehen wir die Menschheit, wie sie vor und ohne Christum ist. St. Paul beschreibt sie im Verse, der vor unsrer Epistel hergeht; es ist ein unangenehmer Haufe, „unweise, ungehorsam, irrig, dienend den Lüsten und mancherlei Wollüsten, wandelnd in Bosheit und Neid, voll Haßes untereinander.“ Vorwärts sehen wir wieder die Menschheit, aber in einem ganz andern Glanze, wie sie nemlich durch die Erscheinung der Freundlichkeit und Leutseligkeit Gottes geworden ist. Da heißt sie selig, erneuert, gerecht, Erbe des ewigen Lebens. So ein großer Unterschied ist zwischen Rückwärts und Vorwärts. Wer es nicht wüßte, wie die Aenderung zu Wege gebracht ist, der würde die Menschheit vor und nach Christo, die Menschheit ohne Christum und in Christo, die Welt und die Kirche für grundverschiedene Creaturen halten.

 Aber der Weg der Menschheit zu ihrer Verherrlichung ist offenbar. Von Dem aus, der in der Krippe liegt, ergießt sich die Barmherzigkeit und die Gnade Gottes, achtet nicht der Werke unsrer Gerechtigkeit, die wir gethan, nicht der Sünde und des bösen Gewißens, welches uns belastet; sondern überfluthet uns frei. Von Christo stammt alle selig, gerecht und guter Hoffnung theilhaftig machende Gnade und Barmherzigkeit.

 Und wie kommt sie zu dir, wie erreicht sie dich, daß auch du deinen Antheil bekommest? Das sagt dir die Epistel klar. Dieser neugeborene JEsus, alle Seine Gnade und Barmherzigkeit erreicht dich, erfaßt, verändert und verneuert dich in deiner Taufe. Wie schön ist es, daß uns, die wir nicht mehr zum Kripplein in Bethlehem gehen können, die Kirche durch die heutige Lection zu unsrer Taufe weist, wo wir unsern HErrn fanden und Er uns − seliger, als die Hirten! Wie kindlich lieblich und wie männlich vollkommen zugleich ist der Gedanke, die Krippe am zweiten Weihnachtstage in ihrer Verbindung mit der Taufe zu zeigen!

 Die Taufe wird genannt ein Bad der Wiedergeburt, d. h. ein Bad, durch welches man wiedergeboren werden kann, durch welches wir wiedergeboren sind, denn wir haben nicht bloß wie die Kinder, sondern als Kinder die Taufe empfangen und deshalb ohne Zweifel unsre Wiedergeburt. Da sind wir selig worden, da lagen wir friedenvoll, gleich dem JEsusknaben, und waren eine Freude Gottes und der Engel. − Da begann aber auch unsere Erneuerung, denn die Taufe ist ein Bad der Erneuerung des heiligen Geistes. Nicht müßig lagen wir in unsern Wiegen. Zwar konnten wir nichts thun, aber der heilige Geist arbeitete an uns und begann in uns die Wiederherstellung und Verklärung unsrer Seele ins

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 253. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/264&oldid=- (Version vom 8.8.2016)