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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Menschenmöglichkeit übersteigende Einigkeit, eine Einigkeit, welche größer ist, als Babels Wunder, − eine Einigkeit, die kein Mensch glauben könnte, wenn sie nicht Der sagte, dem wir alles glauben! Da steht die Erde zwiegespalten − in Juden und Heiden. Und heraustreten zu Christo eine große Schaar der Juden und eine größere der Heiden und werden Eins in Christo, einig, einerlei gesinnt, Eine Gemeine der Heiligen, Eine Kirche! Sie sind einig, wenn nicht in anderem, doch im Größten, Besten, im HErrn und in Seiner Wahrheit! Und was will das sagen! Sie werden immer einiger! Und sieh hin in die Ewigkeit, da stehen sie, versammelt aus allen Zungen und Sprachen und Völkern, und sind ganz einig, ewig einig, in allem einig! Millionen und doch vollkommen einig! Und doch Millionen, deren jeder sich selbst besitzt gegenüber dem ewigen Gute!

 Gibts unter den Christen auch Antipathien? Mögen sich manche nicht? Du kannst nicht zweifeln! Und dort sind sie beisammen, ohne Pein! Gerne beisammen! Einig, einerlei gesinnt! Manche Kranke können in der Krankheit ihre Liebsten nicht leiden. Ist dieß Leben eine Krankheit, sind dort, die man nicht mag, die Liebsten? − Nach so großen Wundern wäre das kein Großes.

 Begreifen kann ichs nicht! Aber ich wollte, ich sähe es, wie man es dort sieht! Ich wollte, ich wäre bei meinen seligen Freunden − und bei meinen seligen Feinden!


Am dritten Sonntage des Advents.
1. Corinther 4, 1–5.

 RIchtet nicht vor der Zeit!“ − „Mir aber ists ein Geringes, daß ich von euch gerichtet werde!“ − An die Corinther, seine liebe Gemeinde, muß der Apostel schreiben: „Richtet nicht vor der Zeit!“ − und muß es in Bezug auf sich schreiben. Also waren sie in Versuchung, ihn zu richten, ihn ungerecht zu beurtheilen, − oder waren gar Fälle vorgekommen, daß St. Paul von den Corinthern ungerecht beurtheilt worden war? Und es war also nöthig, daß er sich durch Bewußtsein seiner Unschuld über das eitle Gericht menschlicher Tage hinwegschwang? daß er sagen mußte: „Mir ists ein Geringes, daß ich von euch gerichtet werde!?“

 Ach, es ist doch traurig, daß selbst eines Apostels Würde bei denen, die er, uns seines Ausdrucks zu bedienen, mit Schmerzen geboren hatte durch den Dienst des Wortes, mistrauisch angesehen werden konnte, daß auch ein Apostel nicht ohne böses Gerücht und Gericht bleiben konnte und das bei seiner eigenen, geliebten Gemeinde! Es ist traurig, aber es ist auch tröstlich − tröstlich für die Hirten der Gemeinden, denen es, obschon sie nicht apostolische Würde haben, bei treuem Wort und Wandel nicht anders ergeht, als jenem. Warum sollen arme Hirten schlechterer Gemeinden ein friedlicheres Leben, einen unantastbareren Ruf in Anspruch nehmen, als Apostel?! Man sei stille und tröste sich mit Aposteln!

 Ein Hirte wacht über seine Heerde, − zwei Augen übersehen oft nicht bloß Hunderte, sondern Tausende. Und diese Hunderte und Tausende sehen alle auf den Hirten und überwachen ihn. Es ist selbst für unreine Hirtenseelen eine gewaltige Anmahnung zur Heiligung in diesem Wachen der Hunderte und Tausende; selbst matte Hände, müde Füße müßen dadurch immer aufs neue angefeuert werden, was recht ist, zu thun, und den Weg des Heils zu wandeln. Warum sollen nicht heilige Hirtenseelen schon darum, weil ein unheiliger Wandel der Hirten in der Hunderte Gewißen alle Sünden entschuldigt, über ihrem Wandel um so mehr wachen? Aber wache, bete, kämpfe, − erfahre den Segen Gottes in Bewahrung vor Sünde fort und fort. Länger bleibst du nicht unbescholten, bis dich einer schilt − und das kann dir zu Theil werden, sowie du das Unglück hast, den Unwillen eines Schurken auf dich zu laden. Ist das Scheltwort und die Verläumdung aus dem Munde, so glaubt sie, wer will, und auch du bist dann vor der Welt in den Staub und Koth gezogen. Rechne nicht auf menschliches Verschonen eines heiligen Lebens! Aber tröste dich des Beispiels des Apostels und freu dich, daß „der HErr kommt, welcher auch wird ans Licht bringen, was im Finstern verborgen ist, und den Rath der Herzen offenbaren, daß alsdann einem jeglichen von Gott Lob widerfahren wird.“


Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 250. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/261&oldid=- (Version vom 8.8.2016)