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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

bestrafende Gefühl und Gewißen fürchtet der Sünder, es thut zu weh, es macht zu unruhig, es stört zu sehr im Traume selbstgenugsamer, sicherer Ruhe, es widerstreitet zu mächtig jeder Hoffnung des Eigendünkels. Da wäre es ja wahr, daß man nicht bloß umsonst, sondern auch sich zum Schaden gelebt habe; man müßte nicht bloß neue Wege einschlagen, sondern auch die alten selber tadeln und für sie Buße thun, und das, wie könnte man das vertragen? Zu Schanden werden, in den Staub geworfen werden, ein armer Sünder sein, dem außer der Gnade keine Hoffnung bleibt, nein, nur das nicht! Da zieht man sich zurück, da entweicht man dem Lichte, da ergibt man sich mit Entschloßenheit dem vorigen Wesen, und nun wird man ärger als zuvor, denn wenn das Wort umsonst vernommen ist, wenn sich die Seele verhärtet hat gegen das Gute, dann kommt das Böse als Strafe über den Menschen und, wenn er zuvor gesündigt hat, weil ihn seine Lust verführte, so ist es jetzt sein eigener Wille, des Bösen Knecht und Sklave zu sein, da wird er ein Gewaltiger in der Bosheit und mit jedem Tage weicht die Sonne der Gnaden weiter von ihm. − Also böse Werke, hochmüthige Schaam, sie zu bekennen und sich zu ändern, das ist die Ursache, warum sich die Menschen den Einflüßen des heiligen Geistes entziehen, warum sie dem Worte widerstreben.

 Man kann, wenn eine Wahrheit gepredigt ist, ganz ruhig sein wegen der Anwendung. Sie wendet sich selbst an, denn es ist ein allwißender Geist in ihr, der einem jeden Hörer, welcher nur des Wortes achtet, sein Theil gibt. Doch will ich hier meine Ueberzeugung aussprechen. Warum sind viele unter euch, da sie doch vom Worte der Wahrheit heimgesucht und zuweilen ergriffen waren, nicht zum Glauben, nicht zur Seligkeit gekommen, sondern immer schlimmer geworden und von einer groben Sünde in die andere dahingerißen worden? Weil es ihnen nach dem Evangelium gegangen ist. Sie hatten Sünde zu bekennen, und mochten sie nicht bekennen um ihres Stolzes willen; sie mochten nicht unrecht gethan, nicht gesündigt haben und keine Bestrafung leiden. Da sich nun auf der Leiter des Guten keine Sproße überspringen läßt, wer die erste verschmäht, keine andere besteigen darf, und der Mensch auch keines Stillstandes fähig ist; so blieb nichts übrig, als daß die stolzen Sünder rückwärts giengen und durch Gottes Gericht dem Bösen, dem sie nicht in der rechten Weise entsagen mochten, vollends überliefert und dessen Beute wurden. Wie viele von euch, die ihr noch lebet, geht das an! Und wenn man die Decke von der Hölle wegheben und die Verdammten fragen könnte, was sie, da sie doch zum Lichte hätten kommen können, in ihre Finsternis gebracht hat, würden sie nicht am Ende alle gestehen müßen, nicht ihre Uebertretungen an sich, die ja vergeben werden konnten, sondern ihr Hochmuth, nicht offenbar zu werden und sich zu erneuen, sei es gewesen? So wahr ist es, daß die Liebe zur Finsternis, nicht mehr die Finsternis allein die Seelen zur Hölle führt, seitdem Christus gekommen ist.

 Gegenüber diesem „Arges thun“, dieser entschloßenen Liebe zum Bösen, wodurch man verdirbt, steht in unserm Text ein „Thun der Wahrheit“. Wer die Wahrheit thut, heißt es, der kommt ans Licht. Es ist, meine Freunde, in der Reihe dieser Betrachtungen schon einmal erwähnt worden, was für ein großes Ding es ist um das „Thun der Wahrheit“, um den Fleiß in der Wahrhaftigkeit. Es ist und bleibet gewis, wer in allen Dingen eins im Auge behält, nemlich die Wahrheit, Wahrheit für seinen hungrigen Geist sucht, nach der innersten Wahrheit seines Erkennens, Wollens und Fühlens handeln und leben will, auch von allen den Seinigen zuallererst ein wahrhaftiges Benehmen wünscht, fordert und erheischt, der hat sich eine Aufgabe gestellt, und den Seinigen eine Regel gegeben, die weder niedrig, noch gemein ist, − und sein erwählter Weg der Einfalt wird sich ihm tausendfach vergelten. Wenn er nun vor allem mit solchem Sinne das Wort Gottes vernimmt, so strahlt ihn zwar, wie jedes arme, sündige Menschenkind, aus demselben ein Licht an, welches demüthigt; aber weil er die Wahrheit thut, weil er vor allem nach Wahrheit trachtet, so gibt er einfach dem Worte Recht, läßt es auf sich wirken, und sein in Gott gethanes, treues Thun bringt ihn zu JEsu, zum Lichte der Welt, und eben damit zu seiner Seligkeit. Es kann, meine Freunde, nicht die Rede davon sein, daß, wer Wahrheit und Wahrhaftigkeit zum obersten Grundsatz seines Lebens macht, gar nicht sündige, daß er alle seine Werke als in Gott gethan ansehen könne oder dürfe. Er bleibt ja doch bei allem seinem Streben ein irrsamer, sündiger Mensch. Aber sein Grundsatz selbst und sein ehrliches Verlangen ist in

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 245. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/256&oldid=- (Version vom 4.9.2016)