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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

und sammelt, so scheidet und sammelt sichs hier innerlich. Dort sehen wir, wie sich äußerlich die Kirche bildet, hier wie sie innerlich entsteht. − Es ist dieß unser heutiges Evangelium um seines ersten Verses willen, den man mit einem gewissen Rechte eine kleine Bibel genannt hat, ein Lieblingstext vieler Tausende. Man erwartet gerne von denen, welche am Pfingstmontag predigen, daß sie das große Also der göttlichen Liebe auslegen, und entschuldigt es, wenn darüber der übrige Inhalt des Textes bei Seite gestellt wird. Auch meine Seele ruht in jenem großen Also, als im Mittelpunkte alles Glaubens, aller Liebe und am Ende auch aller Hoffnung; auch ich möchte bei ihm allein verweilen, an ihm mich und euch erbauen. Ich will mir aber doch nicht nachgeben, sondern meine gewohnte Weise, Hauptpunkte der Evangelien übersichtlich zusammenzustellen und zu betrachten, einhalten und euch die drei großen Grundgedanken unsres Evangeliums erläuternd vorlegen, nemlich den Gnadenrath Gottes, das Gericht und die Ursachen gerade dieses Gerichtes. Möge mein schlichtes, stilles Wort euch nicht eure Freude am heutigen Evangelium verderben! Möge, während euer Geist prüfend mein auslegendes Wort aufnimmt, zuweilen ein prüfender Blick in die eigene Seele gethan und die Frage gelöst werden, ob bei euch, bei einem jeden insonderheit Gottes Gnadenrath hinausgegangen und das Gericht zum Siege vollführt ist. Und wie auch die Frage von einem jeden gelöst werden müße; möge nach erkannter und gegebener, richtiger Antwort sofort das geschehen, was einem jeden zum Frieden dient.


 Gottes Gnadenrath über das menschliche Geschlecht wird uns im ersten Worte unsers Evangeliums kurz, aber vollständig enthüllt; so Ziel und Ende, wie der Weg zum Ziele liegt klar enthüllt vor unsern Augen. Die Welt, so wie sie ist, mit all ihrer Entartung und Verderbnis, mit allem Jammer, der Geister und Leiber erfüllt, steht Gott gegenüber. Sie ist werth, von dem allmächtigen HErrn verworfen und verflucht zu werden; ein Wink von Ihm reicht hin, sie ewig nach ihrem Verdienste und ihrer Würdigkeit zu bezahlen. Wird Er ihr thun, wie ihrs gebührt? Wird Er mit ihr handeln nach Seiner heiligen Gerechtigkeit? Was wird geschehen? Wie lesen wir? Wir lesen von Seinem gnadenreichen Rathschluß, die Welt selig zu machen. Was sie sich selbst erwählet hat, ohne es zu wißen, − was sie mit allem Thun und Laßen erstrebt, − wonach sie auf breiten, vollen Wegen reiset, − was ihr gegönnt ist von allen selbst verlorenen Geistern der Hölle, das ewige Verderben, das will Gott nicht, Sein Wille strebt wider den ihren zu ihrem eigenen Heil; Er will, was Er geschaffen, nicht umsonst geschaffen haben; Sein heiliger Wille, eine selige Welt vor Seinem Auge darzustellen, den Er schon in der Schöpfung hatte, der soll siegen; Seine uranfängliche Liebe zu Seiner Creatur hat Ihn trotz dem, daß Er die abscheuliche Jammergestalt der Welt kennt, nicht verlaßen, sondern sie regiert in Seinem heiligen, guten Wesen. Gott liebt die Welt, das ist aus Seinem Vorsatz, sie selig zu machen, so offenbar, als nur irgend etwas offenbar sein kann. Aber Er liebt die Welt nicht, weil sie so ist wie sie ist, nicht weil sie von Ihm und Seiner Bahn sich weggerißen und auf den Weg der Verdammnis gestellt hat: welcher Vater liebte je einen verlorenen Sohn um seiner Verlorenheit willen? Gleichwie ein Vater einen verlorenen Sohn trotz der Verlorenheit liebt, weil er sein Sohn ist, so liebt Gott die verlorene Welt trotz ihrer Verlorenheit, weil sie Seine Creatur ist. Sein Geist vermag es, ihre einstweilige Beschaffenheit von ihrem Wesen zu unterscheiden. Er weiß, daß das Böse, was im Menschen ist, nicht mächtiger ist, als sein Gutes und seine Liebe; Er kennt Wege, das Böse aus dem Menschen auszuscheiden, wie ein Scheidekünstler Gift aus Waßer scheiden kann; Er will, Seiner würdig, das Größte und Beste thun, des Teufels Rath zu nichte machen, des Teufels Werk aufheben, den Menschen selig machen. Das will und kann Er, aber der Weg, den Er hiezu einschlagen muß, ist kein gemeiner, kein leichter. Es ist ein Weg, den kein Teufel, überhaupt keine Creatur vorausgesehen und vorausgeahnt hatte. Hätte der Teufel bei Entwerfung seiner Plane den Weg erkannt, es würde ihm der Muth entfallen sein, Hand anzulegen; so sollte man wenigstens denken. Der Weg, welchen Gott erwählte, ist eben nichts anders, als das gepriesene, ewig preiswürdige große Also der Liebe, das sich in den Worten unsers Textes findet: „Also hat Gott die Welt geliebt, daß Er

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 241. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/252&oldid=- (Version vom 4.9.2016)