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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Geist der Wahrheit, der vom Vater ausgeht;“ zuweilen aber ist es einem wieder, als hörte man die treuen und wahrhaftigen Menschen, die Apostel JEsu, wie sie ganz in menschlicher Einfalt und Redlichkeit den Mund aufthun und zeugen.

 Ihr erinnert euch, liebe Brüder, daß am Auffahrtstage Christi darauf aufmerksam gemacht wurde, wie die Jünger von dem HErrn um deswillen gescholten werden, weil sie dem menschlichen Zeugnis der Weiber keinen Glauben schenken. Der HErr ehrt also auch das menschliche Zeugnis, und im heutigen Evangelio unterscheidet Er es ausdrücklich vom Zeugnis des heiligen Geistes. − Es ist zu verwundern, daß der HErr das Zeugnis Seiner Apostel, ihr persönlich-menschliches Augenzeugnis, so werth hält, es neben dem Zeugnis des heiligen Geistes zu nennen. Das Zeugnis des heiligen Geistes, der vom Vater ausgeht, ist ein erhabenes, neben welches kein anderes sich selbst zu stellen wagen darf. Und doch stellt nun der HErr Selbst das Zeugnis menschlicher Augen daneben, versteht sich, nicht als gleichwürdig, aber doch neben an. Wir sind so mistrauisch: wie mancher hat schon gefürchtet, daß ihn nicht bloß sein Auge trügen möchte, sondern auch die erscheinende und tönende Welt und Creatur! Gegenüber solcher Anfechtung beut uns unser Evangelium den großen Trost, daß der HErr das Zeugnis menschlicher Augen zur Wahrheit stempelt und uns ihm trauen heißt. Es ist also überhaupt die Sinnenwelt kein trüglicher Spiegel der göttlichen Eigenschaften, deren Bild sich in ihr zeigt; trotz dem, daß sie sich mit uns sehnt, vom Dienste der Eitelkeit frei zu werden, lügt sie doch nicht, sondern wir vernehmen aus ihr, so weit sie klares Licht und deutlichen Ton gibt, rechte, von Gott gegönnte Wahrheit. Insonderheit ist es also, wenn sich zum Licht der Creatur so fromme Augen, zum Ton derselben so treue Ohren finden, wie Apostel sie hatten. Was die Apostel aus dem leiblichen Leben Christi wahrgenommen und uns überliefert haben, das ist ein Sinnenzeugnis, würdig erachtet, vom heiligen Geiste verklärt und zum Gotteszeugnis erhoben zu werden.

 Das gedoppelte Zeugnis des heiligen Geistes und der Apostel erweist sich verschieden. Während das menschliche Zeugnis auch nur menschlich lockt, überzeugt und bewegt, hat das göttliche eine übernatürliche Kraft bei sich, welche dem menschlichen nicht einwohnt. Das menschliche wirkt durch Begriffe und Urtheile auf die Erkenntnis der Zuhörer und von dieser in angeborener, naturgemäßer Weise auf die übrigen Seelenvermögen. Auch das göttliche wendet sich auf gleichem Wege dem Menschen zu, erfaßt ihn gleichfalls zuerst durch Erkenntnis und wirkt von der Erkenntnis weiter; aber es zieht auf derselben Straße in einer ganz andern Macht und Majestät einher, es kommt in Erweisung des Geistes und der Kraft.

 Beide Arten von Zeugnis hinterläßt der HErr in unserm Evangelium der Welt. Mit doppeltem, mit göttlichem und menschlichem Zuge zugleich, begehrt der HErr die Welt zu Sich zu ziehen. Beides gab Er in den ersten Tagen, beides gibt Er auch jetzt. Noch immer ist das Zeugnis des heiligen Geistes nicht bloß möglich, sondern auch wirklich da, wenn gleich der Zeiten Unglaube Hindernisse in den Weg wirft und die Erweisungen des Geistes nicht mehr so reich und voll sein können, als zuvor. Und noch immer ist das Zeugnis der Apostel da in menschlicher und zugleich göttlicher Gestalt, fürs Auge sichtbar in der Schrift, fürs Ohr hörbar aus dem Munde der Prediger; sofern sie nur wieder sagen, was die Apostel gesagt haben. Wollte Gott, es würde das gedoppelte Zeugnis von JEsu in der rechten Weise aufgenommen!


 Es findet aber freilich eine sehr verschiedene Aufnahme in der Welt. Wir wißen, daß es durch die einwohnende Kraft des heiligen Geistes seligmachend ist, und es wäre darum schlimm, wenn sich niemand dadurch selig machen ließe. Dann gäbe es keine Bewohner für den Himmel auf dieser Erde, die ganze Menschheit wäre eine verderbte, dem Verderben geweihte Masse. Es gibt aber, Gott Lob! doch eine Anzahl solcher, die sich selig machen laßen. Zwar sind sie verglichen mit der Zahl derer, die verloren gehen, nur wenige; aber an und für sich sind ihrer doch auch eine große Zahl, denn St. Johannes sah ja am Throne des HErrn eine unzählbare Schaar. Allein, meine Brüder, von dieser letzterwähnten Schaar ist in diesem Evangelium zunächst nicht die Rede, sondern von der andern.

 Es gibt Menschen, welche das Zeugnis des Geistes und der Apostel von JEsu nicht aufnehmen, und ihrer sind nicht wenige; aber es ist unter ihnen

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 228. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/239&oldid=- (Version vom 4.9.2016)